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Verfolgter Unglaube

Verfolgter Unglaube

Atheismus und gesellschaftliche Exklusion in historischer Perspektive

Verfolgter Unglaube
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Veröffentlicht 2018, von Susan Richter bei Campus

ISBN: 978-3-593-39060-4
Auflage: 1. Auflage
380 Seiten
21.3 cm x 14 cm

 
Menschen, die die Existenz eines Gottes verneinen, sahen sich in der gesamten Geschichte Europas Verfolgungen ausgesetzt. Atheismus war hier vor allem eine Konfrontation mit der christlichen Lehre. Angesichts zunehmender weltweiter Verfolgung nichtreligiöser Menschen in der Gegenwart wirft dieser interdisziplinär und interepochal ausgerichtete Band den Blick auf den gesellschaftlichen Umgang ...
Textauszug
Einführung
Susan Richter
(unter Mitarbeit von Lukas Müller und Maike Wendland)
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und säkularer Staat, in dem das Prinzip freier Meinungsäußerung herrscht und durch die Verfassung (Artikel 5, Absatz 1 des Deutschen Grundgesetzes) geschützt ist. Somit ist auch das Bekenntnis, frei von einem Glauben an eine göttliche bzw. übernatürlich gedachte Macht zu sein, eine persönliche Angelegenheit. In einigen Teilen der Welt ist Nichtreligiosität, Religionslosigkeit bzw. Atheismus jedoch eine Straftat und Anlass zur Verfolgung. Internationale Presseberichte der letzten Jahre verweisen darauf, dass die Diffamierung und aktive Verfolgung von "Gottlosen" tatsächlich eher zu- als abgenommen hat. Indonesien ist ein solches Beispiel. Es handelt sich um einen Staat mit verfassungsrechtlich erklärter Religionstoleranz. Dennoch ist es vorgeschrieben, sich zu einer der sechs anerkannten Religionen zu bekennen. Unglaube und die daraus folgende Entehrung der sechs akzeptierten Glaubensrichtungen wird als Straftatbestand eingeschätzt. The Strait Times aus Singapur berichtete im Februar 2012 in ihrem Artikel "Is Atheism illegal in Indonesia? Not believing in God has serious consequences in usually plural Indonesia" über den Umgang mit einem Facebook-Post unter dem Titel "God doesn't exist".
Dem Autor des Posts wurde von der aufgebrachten Menge seines Umfeldes nicht nur Gewalt angedroht, sondern er wurde als Reaktion der Behörden "zu seinem Schutz" in Haft genommen, wegen Blasphemie angeklagt und zuletzt auf Grundlage des Electronic Information and Transaction Law (I.T.E.) mit der Begründung "trying to incite religious hatred" von einem Gericht in Padang zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Für Indonesien gilt: "Atheism is a violation of the state ideology". Die Artikulation von Unglauben im öffentlichen Raum ist daher problematisch, gefährlich und strafbar. In öffentlichen Foren schreiben Atheisten deshalb nur unter Pseudonymen, um nicht verfolgt zu werden. Der Administrator der Facebook-Gruppe: "You Ask Atheists Answer" erhielt mehrfach Morddrohungen, ohne als bekennender Atheist darauf zählen zu können, von der Regierung vor Übergriffen beschützt zu werden.
Ähnliches findet sich im Nachbarland Malaysia: Die Zeitung The Australian berichtete am 14. August 2017 in ihrem Artikel "State hunts down atheist in Malays", die malaysische Regierung habe angekündigt, Atheisten zu jagen und die Verbreitung von Gottlosigkeit zu bestrafen. Im Zuge der Generierung von Wählerstimmen zielte die Regierung gemäß dem Artikel darauf, sich als "Defender of the faith" darzustellen. Interessanterweise wurde hier von der Regierung Malaysias ein sehr alter, schon im 16. Jahrhundert Henry VIII (1491-1547) und seinen Nachfolgern wie Edward VI (1537-1553) vom Parlament verliehener Titel (zur Verteidigung des anglikanischen Glaubens) aus der englischen Königstitulatur und damit der ehemaligen Kolonialmacht bemüht, wenn auch nun muslimisch umgedeutet. Shahidan Kassim, ein ranghoher Mitarbeiter im Prime Minister's Department begründete das geplante Vorgehen seiner Regierung: "Atheism is against the Malaysian constitution. Which enshrines a belief in god". Atheisten können im schlimmsten Fall über das Sharia-Gesetz angeklagt und der Apostasie für schuldig befunden werden. Nicht unüblich ist es laut Artikel, dass Atheisten ihre Ansichten auch gegenüber der eigenen Familie verstecken, dass sie nach einem Outing von ihrem Umfeld angehalten werden, ihren "Glauben zu reparieren", dass ihre Social-Media-Accounts geschlossen werden oder sie aufgefordert werden, sich in sogenannte islamic rehabilitation centres zu begeben. Viele Betroffene berichten, dass sie Medikamente einnehmen, um mit den Situationen von Diffamierung und Verfolgung leben zu können.
Die Situation in Indien, Bangladesch, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten ist ähnlich. In Ägypten wurde am 10. Januar 2015 ein Minderjähriger wegen eines atheistischen Facebook-Posts zu drei Jahren Haft verurteilt. Die ägyptische Regierung geht schon seit Längerem stärker gegen Atheismus vor. Dies zeigte sich daran, dass es verstärkt zu Anklagen bzw. Prozessen kam (zwischen 2011 und 2013 wurden 27 von 42 Angeklagten des Atheismus schuldig gesprochen, drei freigesprochen, elf Klagen abgewiesen). Im Jahr 2014 wurden im Justizministerium 866 Personen als Atheisten namentlich gelistet. Parallel dazu baute das Innenministerium eine Taskforce zur Inhaftierung von Atheisten auf.
Wie aber sieht es in Europa aus? The Herald (Glasgow) berichtete am 13. Februar 2012, dass Prof.?Dr.?Robert Davis, Leiter der Glasgow University School of Education als ein führender Akademiker in Schottland gewarnt habe, dass der zunehmende Atheismus den Religionsunterricht aus den Schulen verdränge. Religion werde nicht mehr als legitimes Unterrichtsfach wahrgenommen. Vielmehr setze sich die Bezeichnung von Religion als "Ghost-hunting" oder "Astrology" unter Schülern und Lehrern durch. Der Akademiker rief daher alle Lehrer und Lehrerinnen dazu auf, darauf zu achten, dass der Glaube den notwendigen Platz im Curriculum erhalte und Religion ihres Rechtes in der Gesellschaft nicht mehr beraubt werde. Dieses Beispiel eignet sich eigentlich nicht, hier aufgenommen zu werden, denn es zeigt nur den gesellschaftlichen Austausch über den Bedeutungsverlust von Religion in westlichen Gesellschaften. Zugleich ist es ein Beispiel eben jener freien Meinungsäußerung und verweist darüber hinaus auf etwas anderes Wichtiges: Aktuelle Diffamierungen oder Verfolgungen von Atheisten spielten in den europäischen Medien der letzten Jahre keine Rolle.
Die aus zahlreichen jüngeren asiatischen und nordafrikanischen Presseberichten ausgewählten Beispiele zeigen, dass grundsätzlich die öffentliche Artikulation von Unglauben bzw. atheistischem Gedankengut in den genannten Gesellschaften und Staaten als Bedrohung von Tradition, Ordnung und Struktur (etwa religiös verhafteten Praktiken und Zugehörigkeiten) verstanden und aus diesen Gründen auch behördlich verfolgt werden. Die öffentlich bekundete und somit massenhaft wahrzunehmende nichtreligiöse Weltanschauung stört bzw. zerstört die üblichen und bekannten soziohistorisch gewachsenen Formen der Lebensführung, die auf religiösen Grundlagen basieren. Während der stille Atheismus eines Einzelnen, die persönliche Glaubenslosigkeit eines Menschen offensichtlich nicht als Gefahr wahrgenommen und somit auch nicht verfolgt wird, ergeben sich aus der öffentlichen Selbstpositionierung entsprechende persönliche Konsequenzen, stehen Meinungsäußerungen unter Beobachtung und wegen gesellschaftlichen bzw. staatlichen Ressentiments drohen gesellschaftliche Exklusion, Exil oder körperliche Strafen. Werte, Vorstellungen von Moral und Sitte sind in den genannten Gesellschaften an ursprünglich göttliche Gesetze oder Lehren, somit an eine Religion und damit wiederum an einen Glauben gebunden. Atheistische Äußerungen stellen aus Sicht dieser Staaten und Gesellschaften eine Negierung des existierenden Wertekanons und somit eine Bedrohung der konsensualen Basis einer Mehrheit oder einer Regierung infrage.
Das gilt in gleichem Maße auch für viele historische, christlich geprägte Gesellschaften Europas. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Ordnungsvorstellungen europäischer Gemeinwesen und entstehender Staaten basierten auf fundamentalen theologischen Grundannahmen wie etwa der Existenz göttlicher Gesetze und dem jahrhundertelangen theoretischen Primat der Universalgewalten Kaiser und Papst, das erst mit den Reformationen und der Herausbildung von Konfessionskirchen systematisch beendet wurde. Als Fundamentalgesetze waren bestimmte göttliche Normen anzuerkennen und das menschliche Verhalten danach auszurichten. Sie wirkten somit ordnungsstiftend und gesellschaftsstrukturierend, vermittelten Grundlagen von Moral und Sitte. Die Missachtung dieser Fundamentalgesetze und der daraus folgende Ungehorsam gegenüber Gott zogen gemäß der als heilig anerkannten Schriften unweigerlich Gottesstrafen nach sich. Weltliche Gesetze und Traditionen orientierten sich an den göttlichen Vorgaben, ihre in der Regel monarchischen Gesetzgeber sahen sich als Stellvertreter Gottes auf Erden. Unglaube stellte damit in den historischen Gesellschaften Europas ebenso wie heute vornehmlich in islamischen Gesellschaften die bestehende Ordnung und das bestehende Wertesystem infrage, wirkte bedrohend auf gewachsene Traditionen des Miteinanders und eines verbindlichen Wertekanons. Aus Atheismus resultierte aus Sicht der Zeitgenossen unweigerlich Chaos und Anarchie. Die Folge bestand in der Ausgrenzung des Bedrohlichen aus der gesellschaftlichen Mitte und seine Zerstörung.
Auffällig sind - und das werden die Beiträge dieses Bandes zeigen - Parallelen in den historischen Argumentationen und angewandten Praktiken der Ausgrenzung und Verfolgung zu aktuellen Vorgängen: Nicht das als atheistisch bewertete Gedankengut eines Menschen wurde belangt. Die Verfolgung setzte erst ein, so die zusammenfassende Erkenntnis dieses Buches, wenn dies öffentlich geäußert wurde und somit ein häretischer Akt gegen die bestehende, gottgegebene Ordnung nachweisbar vorlag. Gefährlich war damit weniger der Inhalt, solange er nicht in größerem Stile verbreitet wurde, sondern der Tatbestand, dem Atheismus durch Publikationen eine Stimme zu verleihen oder ein Forum zu geben. Die schweigende Existenz des Atheisten im Gemeinwesen war geduldet, denn weder in den mittelalterlichen noch den frühneuzeitlichen Gesellschaften erfolgte eine persönliche Glaubensbefragung oder Glaubensprüfung. Unglaube galt nicht als Straftatbestand, wohl aber seine Äußerung und gezielte Verbreitung.
Dem christlich-frühneuzeitlichen Europa standen andere Kulturen wie China oder Japan gegenüber, die in ihrer Geschichte mit der Dominanz des Konfuzianismus aus Sicht der Europäer atheistische Traditionen aufwiesen. Die Auseinandersetzung der Europäer mit den ostasiatischen Kulturen bedingte deshalb im 17. und 18. Jahrhundert eine Konfrontation mit der Frage, ob Moral und Religion auch unabhängig voneinander existieren könnten. Der französische Frühaufklärer und Philosoph Pierre Bayle (1647-1706) sah im Konfuzianismus den besten Beweis für funktionierende Gesellschaften mit hohen ethischen und moralischen Vorstellungen außerhalb einer Religion. Die Schablone des "Anderen" und des "Möglichen" von säkularen Ordnungen in außereuropäischen Kulturen boten Alternativen und Orientierung für die zunehmende Trennung des Politischen vom Religiösen. Formen von säkularer Moral, die auf philosophischer, naturrechtlicher, ethischer oder naturwissenschaftlicher Erkenntnis und daraus abgeleiteten Weltbildern und Weltanschauungen beruhten, wurden nun als möglich gedacht. Das göttliche Prinzip als einzig mögliche Ordnungsgrundlage wurde um ein rationales menschliches ergänzt; der Faktor der Ordnungs- und Gesellschaftsbedrohung wurde durch atheistische Äußerungen somit ebenso obsolet wie die Diffamierung oder Verfolgung von Atheisten. Doch dies war ein langer und schwieriger Weg der Erkenntnis, der den einzelnen, aber lauten atheistischen Stimmen Lehr- und Publikationsverbote, Verleumdung, gesellschaftliche Ächtung und Exil einbrachten. Nicht selten diente der Terminus "Atheismus" zur Entlarvung des Anarchischen, Zerstörerischen; der "Atheist" avancierte zu einer Metapher, die für Außenseiter der Gesellschaft genutzt wurde und sich als Schimpfwort eignete.
Ziel und Aufbau des Bandes
Der vorliegende Band widmet sich dem Spannungsfeld von kritischer Philosophie, Religion und politischer Ordnung. Im Zentrum steht die Frage, wie die Kirche, die Gesellschaft und der Staat in den unterschiedlichen historischen Gesellschaften und Kulturen Europas zwischen dem 12. und 21. Jahrhundert mit einem Atheisten bzw. Religionslosen umgingen. Die Autoren der 13 Aufsätze fragen nach den Rechtsgrundlagen von Verurteilungen. Gab es eigene Gesetze zur Verurteilung von "Gottlosen" oder welche rechtlichen Hilfskonstruktionen ermöglichten die Verurteilung? Es wird die Frage nach politischen und gesellschaftlichen Exklusionsgründen und ihren Begründungsmustern gestellt und dabei untersucht, in welchen Formen sich die Verfolgung zeigte (Diffamierung der Personen aufgrund des Atheismus als Zuschreibungskategorie, Verbrennung ihrer Schriften, Flucht, Exil oder der Entzug ihrer Rechtsfähigkeit, wenn man sie aufgrund ihrer Lehren für wahnsinnig erklärte, und/oder die Hinrichtung). Die Beiträge setzen sich kritisch mit dem Gemeinplatz der Aufklärungs- und Rationalismusgeschichte auseinander, wonach Unglauben durch die Jahrhunderte blutig verfolgt worden sei und die Atheisten über die Jahrhunderte eine historische Verfolgtenidentität begründet hätten. Diese Annahme können die Untersuchungen des vorliegenden Bandes so nicht bestätigen.
Das vorliegende Buch entstand aus einer Heidelberger Tagung zum Thema "Verfolgter Unglaube - Gesellschaftliche Exklusionsgründe von Nichtreligiösen" unter der Leitung von Susan Richter am Internationalen Wissenschaftsforum (IWH) im Januar 2017. Die Tagung hatte nicht den Anspruch, ein lückenloses Bild der Praktiken von Diffamierung und Verfolgung zu bieten, sondern hat Stichproben in verschiedenen Epochen genommen. Bei einem interdisziplinären und interepochalen Meinungsaustausch kommt es leicht zu einer fast babylonischen Sprachverwirrung: Was ist eigentlich Unglaube, Religionslosigkeit oder Atheismus? Was genau verstanden Zeitgenossen kulturell, religiös und juristisch intendiert zu einem bestimmten Zeitpunkt unter Verfolgung von Atheisten? Die Analysekategorien müssen und werden deshalb im Einzelfall in den Beiträgen geklärt und definiert, um dem präziseren Verständnis der geschilderten Sachverhalte aus ihren Forschungen dienen zu können. Der Einleitung folgt mit dem Beitrag Religiöse Normierung und Verfolgung von Atheismus, Unglaube und Nichtreligion als blinder Fleck in unserer Sicht auf Religion von der Bremer Religionswissenschaftlerin Petra Klug dennoch ein Versuch der begrifflichen Einordnung des Nichtreligiösen bzw. des Atheismus vor dem Hintergrund der aktuellen Definitionen von Religion. Der Beitrag bietet darüber hinaus eine Betrachtung systematischer Voraussetzungen für die Verfolgung von Nichtreligiösen und Atheisten: Atheisten werden als Nonkonforme anhand religiöser Normierung identifiziert. Atheismus ist somit nach Petra Klug als "Endpunkt in einem Kontinuum der Abweichung" von religiösen Normen zu verstehen. Sie konstatiert vor allem die Zuschreibung von Unglaube bzw. Atheismus gegenüber Personen als gezielte Diffamierung, die immer auch Andersgläubige oder religiös Nonkonforme treffen kann. Für alle Untersuchungen des vorliegenden Bandes kann Atheismus als Zuschreibungskategorie als eines der wesentlichen Merkmale der Diffamierung gelten.
Der vorliegende Band ist in zwei Stränge gegliedert: In einem ersten Teil werden Fallstudien geächteter und verfolgter Atheisten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vorgestellt sowie ihre gesellschaftliche Exklusion und Verfolgung vor dem Hintergrund zeitgenössisch relevanter theologischer, politischer und gesellschaftlicher Auffassungen zu Unglaube und Atheismus analysiert. In einem zweiten Teil schließen sich Untersuchungen zu Diffamierung und Verfolgung von Atheismus in der medialen Verarbeitung und künstlerischen Deutung von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart an.
Den Auftakt zum ersten Teil bietet die Frankfurter Mediävistin Dorothea Weltecke. Sie kommt in ihrem Beitrag Konzeptionen von Nichtglauben im Mittelalter und die moderne Verfolgungsthese zu dem Ergebnis, dass Nichtglauben und Zweifel weniger schwerwiegend waren als manifeste Irrtümer im Glauben und nicht verfolgt wurden. Dem steht seit dem 16. Jahrhundert grundsätzlich das Narrativ einer "heroischen Atheismusgeschichte" gegenüber: Atheisten hätten schon immer den Betrug der Kleriker durchschaut und seien blutig verfolgt worden. Diese Annahme bestätigt sich jedoch weder in der Analyse theologischer und kirchenhistorischer Schriften des Mittelalters durch Dorothea Weltecke noch in den anderen Aufsätzen des Bandes. Ihr Wiener Kollege Peter Dinzelbacher bestätigt das Ergebnis in seinem Beitrag "dy, dy an got nicht gelaubent" - Eine Spurensuche in der Lebenswirklichkeit des hohen und späten Mittelalters. Im Umgang von Autoritäten mit Ungläubigen sei im Mittelalter keine allgemeine Tendenz sichtbar, vielmehr konstatiert er eine breite zeitliche und örtliche Varianz der Reaktionen und der Einschätzungen, was als "sündiges Verhalten" hinsichtlich der Glaubensausübung gesehen wurde. Er wertet dafür zahlreiche Quellenbeispiele von Einzelpersonen aus, die von sich aus an Gott zweifelten oder sich vom Glauben abwendeten.
Hanna Strehlau widmet ihre Studie Moderne Kirchenkritik oder diabolische "Atheisterey"? - Das Testament des Studenten Joachim Gerhard Ram im Spiegel der theologischen Reaktion Georg Schimmers (1688) einer Selbsttötung im Wittenberger Universitätsmilieu im Kontext von Atheismus als Abweichung von normativen protestantischen Lehren und der Frage des Atheismus als Zuschreibungskategorie. Ram problematisierte im Testament die Kontrolle über die Gläubigen anhand von Lehrgrundsätzen und Lehrmeinungen, bekannte sich selbst jedoch zum christlichen Glauben. Die Äußerungen des Studenten Ram können heute als kirchen- und gesellschaftskritisch bezeichnet werden, bedeuteten im zeitgenössischen Sinne jedoch die Abkehr vom ofiziellen Christentum. Die Heidelberger Masterstudentin kommt zu dem Ergebnis, dass "Atheisterey" als Bezeichnungsform verwendet wurde, um abweichende Meinungen, wie Ram sie vertrat, zu charakterisieren und stigmatisieren. Darüber hinaus markierte das Wort eine dem christlichen Glauben gegenübergestellte, vergiftete Religion, welche die Grundfeste der gesamten frühneuzeitlichen Gesellschaftsordnung zu erschüttern drohte.
Albrecht Burkardt wendet sich in seinem Beitrag Atheismus als Altlast? - Der Lebensbericht eines jungen Konvertiten vor der römischen Inquisition im Jahr 1707 dem Umgang der römischen Inquisition mit dem Atheismus bzw. dem Unglauben zu. Die Inquisition verstand unter Unglauben ein weites Spektrum an Bedeutungen, das von einem dezidierten Abstreiten der Existenz Gottes bis zu allen möglichen Formen des "Aberglaubens" reichte. Bei der Analyse der Inquisitionsprotokolle aus der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert konnte der in Limoges lehrende Historiker Albrecht Burkardt drei Kategorien atheistischer Haltungen in Delikten der römischen Inquisition nachweisen: Zunächst sei der "fluchende Gotteslästerer" zu nennen, der mit seinem devianten Verhalten aufgefallen ist. Des Weiteren stellen die Ungläubigen eine Kategorie dar, die den Atheismus als Rechtfertigung für die Befriedigung ihrer "mondänen" Interessen verwendeten. Als dritte atheistische Haltung nennt Burkardt den Unglauben, der ohne (erkennbare) materielle Motive ausgelebt wurde. Er kommt zum Ergebnis, dass vor den Tribunalen der Inquisition der Vorwurf des Atheismus nichts Außergewöhnliches mehr gewesen sei. Der steigende Anteil an verfolgten Delikten geht mit einer sinkenden Verfolgungsintensität der Glaubenstribunale und milderen Urteilen einher. Dem zu bekämpfenden Übel sei nicht mehr mit den Mitteln der Repression beizukommen.
Die Historikerin Susan Richter widmet sich der Untersuchung von Rechtliche[n] Voraussetzungen für gesellschaftliche Exklusion von Ungläubigen in Frankreich im 18. Jahrhundert - Das Beispiel Julien Offray de La Mettrie. Da keine spezifische französische Rechtsprechung existierte, bot die staatliche Zensurgesetzgebung als zeitgenössische Polizeygesetzgebung im Sinne der Gefahrenabwehr genügend Spielraum, das Phänomen des Atheismus mit abzudecken. Atheismus avancierte somit zu einer politischen Kategorie. Das Zensurgesetz implizierte das Verbot, sich öffentlich gegen die Religion zu wenden und somit Inhalte zu propagieren, die zeitgenössisch als atheistisch bewertet wurden. Die Analyse des Prozesses gegen Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) zeigt, dass in öffentlichen atheistischen Äußerungen vor allem die Gefahr der Zerstörung des Gottesgnadentums und damit der französischen Monarchie gesehen und dieser Angriff durch Verurteilungen und Buchverbrennungen geahndet wurde. Im Verbrennen lag eine endgültige und schnelle Vernichtung der zu Materie gewordenen Gedanken. Es ging darum, denjenigen, der sich öffentlich atheistisch geäußert hatte, zum Schweigen zu bringen. Zugleich stellten die Buchverbrennungen aber auch eine Werbung für die betroffenen Autoren und ihr Gedankengut dar, was das erhoffte Schweigen nicht selten konterkarierte und dem Atheismus eine noch gewichtigere Stimme verlieh.
Der Germanist Kai Gräf widmet sich dem Atheismusstreit um die Philosophen Friedrich Carl Forberg (1770-1848) und Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach 1798 und 1799: "Beweis, daß der Atheismus keineswegs eine gefährliche Lehre sei" - Fichte, Forberg und der Atheismusstreit. Anlass bot die philosophische Aufarbeitung des Religionsbegriffs nach Immanuel Kant (1724-1804), die im Philosophischen Journal veröffentlicht und dessen Auflage daraufhin konfisziert wurde. Fichtes folgender Appell an das Publikum löste den Atheismusstreit als einen literarischen Streit und zugleich behördlichen Prozess aus. Fichtes Lehrverbot und Entlassung waren eng mit einer umfassenden philosophischen Richtungsdebatte verbunden, welche die tatsächlich empfundene oder strategisch behauptete Bedrohung, die von Atheisten und ihrem Unglauben ausgehe, aufnahm. Neu waren nach Kai Gräf Ende des 18. Jahrhunderts die diskursiven Möglichkeiten der Beschuldigten, auf Vorwürfe öffentlich zu reagieren.
Gräfs Beitrag stellt damit gewissermaßen die Klammer zum zweiten Teil des Bandes, den medialen Präsenzen von vermeintlichem und zugeschriebenem Atheismus oder diffamierten Atheisten bzw. atheistischen Strömungen in Kunst, Literatur und Debatten dar. Den Auftakt bietet der Artikel des Heidelberger Japanologen Hans Martin Krämer mit einem Blick in frühneuzeitliche Reiseberichte aus Ostasien: Der Konfuzianismus im Japan der Frühen Neuzeit zwischen atheistischer Orthodoxie und verfolgtem Unglauben. Der Beitrag unternimmt eine Neubewertung der Rolle bzw. der historischen Chronologie des Konfuzianismus als einer von der jeweiligen Staatsmacht gestützten quasihegemonialen Stellung in China, Korea und Japan. Der Konfuzianismus wurde in diesen Gemeinwesen als politische Philosophie verstanden. Japanreisende wie Engelbert Kaempfer, der sich zwischen 1690 und 1692 im Dienste der niederländischen VOC (Ostindischen Compagnie) auf mehreren japanischen Inseln befand, nahmen den Konfuzianismus als Atheismus, wörtlich: als "atheistische Philosophie", wahr. Krämer geht in seiner Untersuchung nicht nur auf das europäische Bild ostasiatischer "atheistischer" Gemeinwesen ein, sondern untersucht auch das nicht immer konfliktfreie Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen in den japanischen Fürstentümern. Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Konfuzianismus und Buddhismus sei die Orthopraxie, weniger die Vorstellung von Orthodoxie. Zur Verfolgung, so konstatiert er, sei es jedoch kaum gekommen.
David Reißfelder begibt sich in seinem Aufsatz Feinde der christlichen Monarchie - Atheismus und die Whigs in der englischen Oper "Albion and Albanius" (1685) von dem Komponisten Louis Grabu (bl. 1665-1694) auf musikwissenschaftliche Spurensuche. Die Oper kontrastiert die Stuart-Monarchie mit der gesetzeslosen und lasterhaften Zeit der englischen Republik. Die Feinde der christlichen Monarchie wurden, so konstatiert der Züricher Nachwuchswissenschaftler, durch Personifikationen dargestellt. So steht die Figur der Asebia für den Atheismus, der in der Konzeption der Oper als vernunftwidrig und unmoralisch, die Monarchie zerstörend dargestellt wird. Die Einbindung dieser Figur richtet sich nicht gegen tatsächliche Atheisten, sondern wurde als Stilmittel genutzt, um die Gegner des Königs Charles II zu diffamieren. Die Figurenkonstellation der Oper "Albion and Albanius" zeigt als künstlerische Produktion beispielhaft die politische Instrumentalisierung des Atheismusvorwurfs in der Gesellschaft und ihre Eignung zur herabwürdigenden Charakteristik des feindlichen Lagers.
Der englischen Oper folgt der Blick in die deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Björn Spiekermann untersucht als Literaturwissenschaftler Poetische Scheiterhaufen - Der Atheist als Feindbild in Gedichten des 17. Jahrhunderts. Galt der Unglaube zunächst als Projektionsfläche kollektiver Ängste, so avancierte er zunehmend zu einer realen geschichtlichen Größe, was Spiekermann an der wachsenden Zahl poetischer Reaktionen abliest. Ab ca. 1745 wird das Feindbild des Atheisten von dem des "Freygeistes" als Zusammenfassung aller Arten weltlicher Heterodoxie abgelöst. Die gesamte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten des Unglaubens während der Frühen Neuzeit lässt sich am besten als Feindbilddiskurs begreifen, der nach Spiekermann im Laufe von mehreren Jahrhunderten unter wechselnden Leitbegriffen mit Blick auf ganz verschiedene Gegner geführt wurde. Als Kennzeichen des Umgangs mit Feindbildern nennt er die scheinbare Vertrautheit mit einem Gegner, dem Atheisten, den man nie gesehen hat, der aber durch Wiederholung und mediale, insbesondere poetische Aufbereitung der immer gleichen stereotypen Kennzeichen zu einer festen Größe in der kollektiven und individuellen Wahrnehmung geworden ist. Zugleich konstatiert Björn Spiekermann die Bereitschaft, in dem erzeugten Konstrukt stets aufs Neue das "Andere" oder das "Fremde" zu erkennen und ihm a priori jede nur denkbare Art von gegenzivilisatorischer Machination zuzutrauen.
Susan Richter setzt sich in ihrer Studie Der Atheismus ist männlich, nackt und schön - Analyse eines neuen Darstellungsphänomens in der Französischen Revolution mit der sehr seltenen männlichen Personifikation des Unglaubens bzw. des Atheismus auseinander, die nur in einem sehr kurzen Zeitraum in der Mitte der 1790er Jahre während der Französischen Revolution auf Kupferstichen nachweisbar ist. Die Bildsprache und insbesondere Personifikationen gewannen gerade im Kontext der Revolution und dem Aufblühen bürgerlicher sowie massentauglicher Kunst eine neue Bedeutung. Mit der Wahl einer männlichen Personifikation bot der Unglaube schon durch sein Geschlecht ein Gegenstück zur grundsätzlich weiblich konnotierten Fides oder Religio. Der Revolutionsatheismus erscheint auf allen Stichen als ein Jugendphänomen, als Phänomen einer "verführten", "wilden" Generation, vor allem unter den jungen Männern. Die Blätter lassen sich, so Susan Richter, als visuelle Kritik und Widerstand gegen ausgewählte atheistische Revolutionskulte wie den Culte de la Raison und die aufkommende Théophilanthropie einordnen.
Anja Kirsch richtet ihren Blick auf die DDR. In ihrem Beitrag … und einen Teufel gibt es nicht in unserer Republik! - Aberglaube, Religion und Atheismus im Weltanschauungsdiskurs der Deutschen Demokratischen Republik zeigt sie, dass der sozialistische Mensch zu einer Weltanschauung erzogen wurde. Weltanschauung diente als Oberbegriff, unter dem auch der kaum vorhandene Atheismusdiskurs seinen Platz fand. Die Basler Religionswissenschaftlerin Anja Kirsch weist eine marginalisierte Thematisierung des Atheismus im Staatsbürgerkundeunterricht der Schulen und in den populären Medien nach. Eine ebenso geringe Rolle nahmen auch Religion und Glauben ein, die in der Regel als Aberglaube interpretiert wurden. Aus der geringen Bedeutung des Atheismus für das System der DDR resultierte auch, dass Atheismus weder metaphorisch noch argumentativ eine Rolle spielte, offensichtlich auch nicht als diffamierende Zuschreibungskategorie.
Der Kulturanthropologe Samuli Schielke schließt mit seinen Betrachtungen den Kreis zum Anfang dieser Einleitung, zu den aktuellen Fällen von Diffamierung und Verfolgung von Atheisten und atheistischen Äußerungen im Kontext von Medien bzw. Kunst. Er untersucht den Fall des ägyptischen Dichters Montaser Abdel Mawgouds, der in seinem Werk die Mensch-Gott-Beziehung neu vorstellte. Der Beitrag Ist Prosadichtung eine Verschwörung gegen den heiligen Koran? - Der Vorwurf des Unglaubens gegen einen gläubigen Dichter im zeitgenössischen Ägypten zeigt, dass die ägyptische Regierung den künstlerischen Versuch als Unglaube und Verzerrung der göttlichen Offenbarung auffasst. Montaser Abdel Mawgoud wurde als Häretiker eingestuft, was im Verständnis seiner Ankläger schlimmer ist als die Einordnung als Ungläubiger. Poesie, so belehren sie ihn, sei nur für imaginative Erkundung des Denkbaren geeignet. Alles andere, so Samuli Schielke, stellt eine häretische Bedrohung gegen sorgfältig geschützte Gewissheiten der richtigen Beziehung zwischen Menschen und Gott in Ägypten und der islamischen Welt dar. Der Künstler sah sich deshalb der Verfolgung ausgesetzt und befindet sich im Exil.
Nach dem Blick auf alle Studien zeigt sich zusammenfassend, dass Atheismus und Unglaube seit dem Mittelalter als eine politische Kategorie verstanden und von den Obrigkeiten und staatlichen Behörden rechtlich, mit über Jahrhunderte hinweg ähnlichen Begründungsmustern wie der drohenden strukturellen Zerstörung von Tradition und Gemeinwesen geahndet wird. Eigene Atheismusparagrafen finden sich zu keiner Zeit in den historischen Rechtsprechungen Europas, vielmehr werden bei Verurteilungen Hilfskonstruktionen wie Häresie bemüht. Wünschenswert wäre es, über die Stichproben dieses Bandes hinaus eine breitere rechtshistorische Forschung voranzutreiben, etwa die Analyse von Prozessakten, Rechtspraktiken und rechtstheoretischen Ansätzen - zum Beispiel der Inquisition oder der einzelnen Staaten. Auch der vergleichende Blick in die frühneuzeitlichen Republiken wie die Eidgenossenschaft, die Generalstaaten oder Venedig wäre hinsichtlich der Frage, ob es Unterschiede im Umgang mit "Atheisten" gab, von Interesse. Zumindest die Stichprobe zur ersten Französischen Republik während der Revolution ergibt, dass diese zur Einordnung des bedrohlichen Charakters des Atheismus - Zerstörung von Ordnung und Moral - alte monarchische Muster bemühte.
Nur durch eine umfassendere rechtshistorische Forschung könnte eine präzise Antwort auf die anfangs genannte Verfolgungsthese gegeben werden. An dieser Stelle kann nur das Ergebnis der Stichproben stehen: Eine breite und vor allem blutige Verfolgung von Atheisten seit dem Mittelalter ist nicht festzustellen, wohl jedoch eine einzelfallbezogene, die immer als Reaktion auf religions- und konfessionskritische Äußerungen oder politische Positionen erfolgte und nicht selten auf der bloßen Zuschreibung von Atheismus basierte. Es gilt daher als weiteres Ergebnis dieses Bandes festzuhalten, dass Atheismus als Zuschreibungskategorie und als gesellschaftlicher Ausgrenzungsbegriff historisch genutzt wurde und - wie am Beispiel des ägyptischen Dichters Montaser Abdel Mawgoud aktuell - noch genutzt wird. Einzelne Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, in welchen Kontexten sich einzelne Akteure oder Akteursgruppen des Atheismusbegriffs bedienten und welche Intentionen der Diffamierung von politischen Gegnern oder Denkströmungen sie damit verbanden. Sinnvoll wäre es sicher, bei künftigen Untersuchungen im Kontext von Zuschreibung noch gezielter nach üblichen Sprachmustern zu suchen und diese zu vergleichen. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass Atheismus als Deutungsschablone genutzt wurde, um sich fremdkulturellen frühneuzeitlichen Gemeinwesen wie Japan anzunähern. Nicht zuletzt mit dem Resultat, anhand der Schablone eigene europäische Vorstellungen der Verbindung bzw. strikten Abhängigkeit von Moral und Religion langfristig überdenken und letztlich aufgeben zu müssen.
Auffällig ist, dass mit zunehmender Medialität und der Herausbildung von diversen Öffentlichkeiten im 18. Jahrhundert dem Atheismus eine immer stärkere Stimme verliehen wurde, Atheismus - sei es als Tatsache oder Zuschreibung - eine immer größere Rolle in gesellschaftlichen Diskursen einnahm. Aus dieser Tendenz der zunehmenden Präsenz des Atheismus, der ja - wie ebenfalls gezeigt wurde - ablehnende Haltungen und offizielle Verfolgung Einzelner provozierte, mag die Verfolgungsthese resultieren, die sich als Gemeinplatz der Aufklärungs- und Rationalismusgeschichte etabliert hat, und mögen Atheisten ihre historische Verfolgtenidentität begründen.
Den ausführlichen mediävistischen und frühneuzeitlichen Betrachtungen dieses Bandes fehlen leider ergänzende Studien zu verfolgten Atheisten im 19. und 20. Jahrhundert, die eine Klammer zur Gegenwart bieten könnten. Dieses Desiderat ist der Herausgeberin bewusst. Es hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung ihre Forschungen für diese Publikation zur Verfügung stellen konnten. Dennoch bietet der Band Neues: Weder die Atheismusforschung noch die Religionswissenschaft noch die Geschichtsforschung richtete bisher den Blick auf die Verfolgung von Nichtreligiösen bzw. Atheisten. Im Fokus steht immer die Auseinandersetzung mit der Frage, ob Andersgläubige verfolgt wurden. Der diffamierende Umgang mit Nichtgläubigen wurde bisher in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vieler Disziplinen weitgehend vernachlässigt. Aktuelle Tendenzen von Diffamierung und Verfolgung, wie sie zu Beginn der Einleitung anhand eines kurzen Blicks in die Presse aufgezeigt wurden, verweisen jedoch auf ein akutes Problem in vielen asiatischen und nordafrikanischen Gesellschaften, das in Europa kaum wahrgenommen wird. Die aktuelle Problematik initiierte daher eine historische Spurensuche nach verfolgten Atheisten in Europa im Rahmen einer interdisziplinären Lehrveranstaltung im Wintersemester 2016/17 in Heidelberg.
Das große Interesse der Studierenden am Thema mündete in die Vorbereitung und Durchführung der Tagung im Januar 2017: eine Veranstaltung des Heidelberger Historischen Seminars, zu der wir Gäste aus verschiedenen Disziplinen begrüßen durften. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, den Studierenden und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für spannende Stunden und die anregende Diskussion sowie meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Gregor Stiebert für die Unterstützung bei der Organisation. Als Resultat des gemeinsamen Denkens und mit Hinweis auf die aktuelle Problematik der Verfolgung von Nichtreligiösen ist der vorliegende Band entstanden, der Beiträge ausgewiesener Wissenschaftler und Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses vereint. Für inhaltliche Recherchen, eine exzellente Redaktion der Aufsätze und die Erstellung des Index danke ich sehr herzlich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Erika Lokotsch, Maike Wendland, Hanna Strehlau, Pia Hansen und Lukas Müller. Für anregende Gespräche, fachliche Hinweise sowie die wieder perfekte Betreuung bei der Entstehung eines Buches danke ich Jürgen Hotz vom Campus Verlag sehr freundlich. Bedanken möchte ich mich auch bei Hildegard Hogen, die das Lektorat übernommen hat. Finanziell ermöglicht wurde die Tagung und der Druck des Buches aus Geldern einer Stiftung zur Erforschung des Atheismus und des historischen Materialismus am Historischen Seminar Heidelberg, wofür ebenfalls gedankt sei.

Beschreibung
Menschen, die die Existenz eines Gottes verneinen, sahen sich in der gesamten Geschichte Europas Verfolgungen ausgesetzt. Atheismus war hier vor allem eine Konfrontation mit der christlichen Lehre. Angesichts zunehmender weltweiter Verfolgung nichtreligiöser Menschen in der Gegenwart wirft dieser interdisziplinär und interepochal ausgerichtete Band den Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Atheismus zwischen dem Mittelalter und dem 20. Jahrhundert.
Wo liegen die Wurzeln der Diffamierung von "Gottlosen"? Gab es theologische oder juristische Grundlagen, "Gottesleugner " zu verurteilen und zu bestrafen? Welche Formen der sozialen Exklusion übte man aus? Wie reagierten die Betroffenen auf die Prozesse, die Verbrennung ihrer Schriften und den Entzug ihrer Rechtsfähigkeit? Und wie gingen die Gesellschaften außerhalb Europas, etwa in Indien oder Ostasien, mit dem Thema Unglauben um?

Zitat aus einer Besprechung
»Was Nichtreligiöse und Ungläubige zwischen dem 12. und 21. Jahrhundert weltweit an Verfolgung und Ausgrenzung erlitten und immer noch erleiden, beschreiben die Aufsätze dieses Tagungsbands in vielen Facetten.« Michael Roesler-Graichen, Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 23.08.2018

Über Susan Richter

Susan Richter ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Kiel.


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Susan Richter ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität zu Kiel.