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Zum Fall machen, zum Fall werden

Zum Fall machen, zum Fall werden

Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts

Zum Fall machen, zum Fall werden
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Veröffentlicht 2009, von Sibylle Brändli, Barbara Lüthi, Gregor Spuhler bei Campus

ISBN: 978-3-593-38864-9
Auflage: 1. Auflage
280 Seiten
21 Abbildungen
21.3 cm x 14 cm

 
Fallgeschichten sind en vogue. In diesem Band geht es um dreierlei: erstens um Fallakten und Fallgeschichten als historische Quellen sowie um den Stellenwert von Fallstudien in der Geschichtswissenschaft. Zweitens um die Rolle von »Fällen« für die Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Und drittens um die Erfahrungen von Menschen, die zu einem »Fall« werden. Der Band ...
Textauszug
Fälle in der Geschichte von Medizin, Psychiatrie und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert
Sibylle Brändli, Barbara Lüthi, Gregor Spuhler

Die Grenzen und Möglichkeiten der Arbeit am "Fall" bilden einen hotspot der Diskussion in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Neu entfacht ist die Debatte um die Repräsentativität von Fallstudien, um Generalisierungen aufgrund von Fallgeschichten und um die Zuverlässigkeit von Fallakten. In verschiedenen Fächern ist gegenwärtig wieder ein reges historisches und empirisches Interesse an "Fällen" vorzufinden - sei es in einer Abgrenzungsbewegung seitens der Verfechter einer quantifizierenden Wissenschaft, die viele qualitative Methoden unter dem Vorwurf des Eklektizismus ablehnt, sei es aufgrund einer heuristischen Faszination etwa für die Details von Fallmaterialien seitens der interpretativen Wissenschaften. In der Geschichtsschreibung ist vor allem in den letzten zwei Dekaden ein wachsendes Interesse an Fallmaterial zu konstatieren, und dies insbesondere in der Medizin- und Psychiatriegeschichte. Bei der historischen Herausbildung eines institutionalisierten Macht-Wissens-Komplexes wie der Medizin und der Psychiatrie spielen Fälle eine zentrale Rolle. Unter diesen Vorzeichen fand das zweitägige internationale Kolloquium "Arbeit am Fall: Historische Annäherungen an ein flüchtiges Konstrukt" am 13./14. Januar 2006 in Basel statt, aus dem die Beiträge des vorliegenden Sammelbands hervorgegangen sind. Das Kolloquium führte Historiker und Historikerinnen zusammen, die in ihren medizin- und psychiatriegeschichtlichen Forschungen mit fallbezogenen Akten und Ansätzen arbeiten, um die Produktivität dieser (durchaus unterschiedlichen) Zugangsweisen zu vergleichen und zu diskutieren. Ziel war es nicht zuletzt, den Begriff des "Falls" zu problematisieren, aber auch zu klären.

Ärztinnen, Psychiater und Psychologinnen arbeiten mit Fällen, und Fallgeschichten haben für diese Berufsgruppen einen wichtigen Stellenwert. Nicht selten spiegeln sich in diesen Geschichten der seelisch und körperlich kranke Mensch oder die Krankheit selbst als "schwieriger" Fall. In diesem Begriff des "schwierigen Falls" verdichten sich unsere Interessen an Fallakten, Fallgeschichten und Fallstudien sowohl in Bezug auf die Praxis von Historikerinnen und Historikern als auch in Bezug auf die Praxis und Erfahrung von Menschen in gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen der Vergangenheit. Der Buchtitel "Zum Fall machen, zum Fall werden" verdeutlicht einerseits die Komplexität des Unternehmens, einen Umgang mit Fällen in der Geschichtswissenschaft zu finden, andererseits aber auch die Prozesshaftigkeit der Vorgänge, mit denen wir es zu tun haben. Was macht einen Fall aus? Was vermögen uns personenbezogene Akten sowie historische Fallkonstruktionen und -geschichten aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wie sie in diesem Sammelband analysiert und kritisch beleuchtet werden, über vergangene Erfahrungen, Institutionen und Praktiken sagen? Zu welchem Sinn und Zweck nutzen Historiker und Historikerinnen Fälle? Und: Welche erkenntnistheoretischen Möglichkeiten eröffnen Fälle und Fallstudien den Geschichtswissenschaften?

Der Sammelband verbindet ein Interesse an einer spezifischen Erkenntnisweise geschichtswissenschaftlicher Arbeit am Fall mit einem Interesse an der Genealogie des Falls, an der Produktivität von Fällen für medizinische und psychiatrische Institutionen und Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts und an der Erfahrung und Dynamik, die damit verbunden waren, zu einem Fall zu werden. Dieser doppelte Blick trägt dazu bei, das terminologische und methodologische Bewusstsein für die heutige und vergangene Arbeit am Fall zu schärfen.
Die "Fälle" der Medizin- und Psychiatriegeschichte

Die Erweiterung der Sozial- zu einer Kulturgeschichte in den 1990er Jahren hat die Medizin und Psychiatrie verstärkt zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Reflexion gemacht. Medizin und Psychiatrie bieten sich als besonders lohnende Felder für diese Reflexion an, da sie eine herausragende Rolle bei der Herausbildung von wirklichkeitsmächtigen Vorstellungen über die Natur des Menschen, sowie über "Krankheit" und "Gesundheit" innehatten. Gleichzeitig hat die Frage nach der "kulturellen Praxis", in der und durch die Individuen und Gruppen agieren - aber auch die Grenzen ihres Handelns erfahren - an Aufmerksamkeit gewonnen. In den Vordergrund gerückt ist zudem die Vielfalt "sozialer Logiken", die sozialanthropologische Ansätze ins Feld führen, um Vorstellungen über die Dauerhaftigkeit menschlicher Verhaltens- und Vorstellungsweisen in Frage zu stellen. Die Kulturwissenschaften betonen somit das Wandelbare, Variable, Kontingente. Sie fragen nach Bedeutungen, nach Werten und Symbolen und interessieren sich für Sinnstiftungsleistungen und Deutungsangebote, die sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt durchgesetzt haben.

Krankheit als medizinische Kategorisierung und soziokulturelles Konstrukt

Konstruktivistische Ansätze innerhalb der Science Studies - angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Soziologie, Geschichte und Wissenschaftstheorie - machen naturwissenschaftliche Inhalte und medizinisches Wissen einer historischen oder soziologischen Erklärung zugänglich. Krankheiten gelten dann nicht mehr als gegebene biologische Realitäten oder unveränderliche anthropologische Konstanten, sondern jede Krankheit erweist sich als zeitgebunden. Krankheiten stellen eine jeweils spezifische Art dar, "Phänomene zu beobachten, in Gruppen zusammenzufassen, zu benennen und sie mit einer bestimmten Bedeutung zu versehen". Umgekehrt geht es in diesem Ansatz um die Frage, in welchem Umfeld Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu ihren Forschungsergebnissen und Erkenntnissen gelangen und wie sie diesen den Status der "Wahrheit" verleihen. Dabei rücken die Professionalisierungsinteressen und gesellschaftlichen Distinktionsbedürfnisse medizinischer Akteure sowie deren Verhalten in wissenschaftlichen und sozialen Aushandlungsprozessen in den Vordergrund.

Forschungsergebnisse erhalten den Status von wissenschaftlichen Tatsachen erst in einem komplexen Stabilisierungsprozess. Diesen muss man sich als Kommunikations- und Durchsetzungsprozess vorstellen, der sich auf den Binnenraum der Wissenschaften beschränken kann (aber nicht muss) und an dem soziale, materielle, epistemische und politische Faktoren beteiligt sind. Hier kann verfolgt werden, wie Wissenschaft überhaupt zu gültigen und allgemein anerkannten "Fakten" gelangt. In diesem Zusammenhang lohnt sich die Beschäftigung mit der "Kultur medizinischer Handlungsorte" (Hofer/Sauerteig), im vorliegenden Fall etwa mit der psychiatrischen Klinik oder der Privatpraxis als einem Ort spezifischer symbolischer Ordnungen und Kommunikationsstrukturen.

Konstruktivistische Ansätze betonen, dass medizinisches Wissen und Handeln sowie die Objektivitäts- und Rationalitätsansprüche der Medizin niemals außerhalb kultureller und sozialer Zusammenhänge stehen; vielmehr gilt es diese Ansprüche einer historischen Betrachtung zu unterziehen. Anders als die Verfechter einer Sozialgeschichte, die "Medizin" oder "Psychiatrie" oftmals als eine monolithische Entität und Patienten als passive Empfänger auffasst, trägt eine Kulturgeschichte der Medizin zur "produktiven Destabilisierung und Dynamisierung" dieser Vorstellungen und Begriffe bei. Parallel dazu prägen konstruktivistische Ansätze die Selbstreflexion von Historikerinnen und Historiker. Dies ist gerade bei der Auseinandersetzung mit Fällen und Fallkonstruktionen wichtig, sind wir doch selbst unweigerlich ein Teil dieses Prozesses der Fallproduktion. Durch diese Selbstreflexion wird es möglich, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten im jeweiligen Projekt der Historikerinnen und Historiker sowie der historischen Fallproduzenten im Auge zu behalten. Historiker und Historikerinnen können sowohl ihre ureigene professionelle Distanz zu ihrem Gegenstand halten als auch, mitunter mit einem ironischen Zwinkern, die Selbstimplikation thematisieren, die sich etwa im selbstvergessenen Weiterspinnen an einem historischen Fall oder der impliziten "Verbesserung" einer vor 150 Jahren gestellten Diagnose äußert.

Produktion von Normalität und Abweichung

Wenn die "Natur" des Menschen und Krankheiten thematisiert werden, so gilt es auch die Aufmerksamkeit auf die Produktion von "Normalitäten" zu lenken. Konstruktivistische kulturwissenschaftliche Ansätze interessieren sich deswegen stark für kulturelle Vorannahmen und Repräsentationen. Diese sind maßgeblich an der Produktion von "Normalitäten" und am Prozess der Normalisierung beteiligt. Aber was uns normal oder als "ganz natürlich" erscheint, ist in den meisten Fällen etwas historisch Gewordenes. Dies gilt für Schemen wie normal - abweichend sowie gesund - krank. Wer waren die Akteure, welche Institutionen und Technologien definierten die Gesundheit oder "Normalität" der Menschen? Wie reagierten die Betroffenen, aber auch eine breitere Öffentlichkeit?

Im Zusammenhang dieser Fragen werden die Austauschprozesse zwischen Medizin respektive Psychiatrie, ihren Technologien, Institutionen und der Gesellschaft zum Gegenstand der Analyse. Medizin und Gesellschaft lassen sich dabei als "durchlässige Membrane" (Hofer/Sauerteig) begreifen, die durch den Austausch von symbolischen Ausdrucksformen, aber ebenso durch konkrete Handlungen und Kommunikationsformen gekennzeichnet sind. Unser Verständnis von Fällen ist vor diesem Hintergrund zu verorten: Mit der Fokussierung auf Kontaktzonen und Übergangsbereiche zwischen Medizin und Gesellschaft werden kulturelle Austausch- und Konfliktmomente wie auch lebensweltliche Aspekte aktuell. Dies gilt gerade mit Sicht auf die Patienten und Patientinnen - oder wie es Roy Porter formulierte:

"(I)t takes two to make a medical encounter - the sick person as well as the doctor; and for this reason, one might contend, that medical history ought centrally to be about the two-way encounters between doctors and patients. Indeed, it often takes many more than two, because medical events have frequently been complex social rituals involving family and community as well as sufferers and physicians."

Kranke werden bei diesem Zugang nicht einfach als passive Empfänger und Empfängerinnen eines hegemonialen Wissens betrachtet, das jenseits ihres Einflusses entsteht, sondern sie sind Teil eines - oft konfliktreichen - kommunikativen Aktes. Wie Hans-Georg Hofer und Lutz Sauerteig konstatieren, ist "medizinisches Wissen im Laufe der Geschichte immer wieder von alltagskulturellen Vorstellungen und Deutungsangeboten geprägt worden, die aus der Patienten-Arzt-Kommunikation entstanden sind beziehungsweise durch das Eingebundensein medizinischer Akteure in ihr jeweiliges kulturelles und gesellschaftliches Umfeld bedingt waren." Ein besonderes Anliegen des Bandes ist es folglich, diese Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen.

Beschreibung
Fallgeschichten sind en vogue. In diesem Band geht es um dreierlei: erstens um Fallakten und Fallgeschichten als historische Quellen sowie um den Stellenwert von Fallstudien in der Geschichtswissenschaft. Zweitens um die Rolle von »Fällen« für die Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts. Und drittens um die Erfahrungen von Menschen, die zu einem »Fall« werden. Der Band versammelt neue Forschungsergebnisse zur Psychia- trie- und Medizingeschichte und leistet damit einen Beitrag zur aktuellen Debatte über fallbezogene Untersuchungen in der Geschichtswissenschaft.

Über Sibylle Brändli, Barbara Lüthi, Gregor Spuhler

Sibylle Brändli, Dr. phil., ist Oberassistentin am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich. Barbara Lüthi, Dr. phil., ist Assistentin am Historischen Seminar der Universität Basel. Gregor Spuhler, Dr. phil., leitet das Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich.