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Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar?

Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar?

Axel Honneths Freiheitstheorie in der Diskussion

Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar?
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Veröffentlicht 2018, von Magnus Schlette bei Campus

ISBN: 978-3-593-50733-0
Auflage: 1. Auflage
342 Seiten
21.4 cm x 14.1 cm

 
Axel Honneth erhebt in "Das Recht der Freiheit" den Anspruch einer sozialphilosophischen Synthese aus normativer Gerechtigkeitstheorie und empirischer Gesellschaftsanalyse. Seine zentrale These lautet, dass die Idee der Freiheit - und zwar im Sinne der individuellen Chancen auf kooperative Selbstverwirklichung - im Zentrum des Wertesystems der modernen westlichen Gesellschaften steht. Die ...
Textauszug
Vorwort
Der vorliegende Band geht zurück auf einen Workshop an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), dessen Teilnehmer sich aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven mit der Gesamtarchitektonik und den verschiedenen Themenfeldern der Freiheitstheorie in Axel Honneths Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit auseinandergesetzt haben.
Die Leitfrage der Veranstaltung, die in den Beiträgen umkreist wurde, lautete: "Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar?" Sie sollte schlagwortartig die Folgefragen anregen, wenn ja, wie Freiheit institutionalisierbar ist und ob Freiheitsvollzüge der Selbstverwirklichung in ihren möglichen sozialen Institutionalisierungen aufgehen. - Diese Fragen stehen wiederum in dem weiteren Zusammenhang einer Problematisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in der Moderne: Wie verhalten sich die institutionellen Sphären dieses Spannungsverhältnisses zueinander? Sind sie in Axel Honneths Freiheitstheorie mit den Sphären der persönlichen Beziehungen, des Marktes und der politischen Öffentlichkeit erschöpfend erfasst? Sind diese angemessen begriffen? Wie lässt sich Axel Honneths Projekt einer normativen Rekonstruktion des modernen Freiheitsverständnisses zu den Forschungen im Horizont des Konzepts der multiple modernities in Beziehung setzen? - Axel Honneths Freiheitstheorie beabsichtigt eine Reaktualisierung von Hegels Konzept des allgemeinen freien Willens, verortet sich darüber hinaus aber auch in einer langen Problemgeschichte der Relationierung von Moralität und Sittlichkeit und steht in einer ideengeschichtlichen Fernbeziehung zu einer Vielzahl von Gesprächspartnern der Sozialphilosophie von Thomas Hobbes bis Charles Taylor.
Die für die Publikation überarbeiteten und teilweise deutlich erweiterten Beiträge des Workshops wurden in diesen Band aufgenommen und um eine Reihe weiterer Aufsätze ergänzt. Das Buch führt Autoren unterschiedlicher Disziplinen - von der Philosophie über die Soziologie, die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften bis zur Theologie - zusammen, die sich entweder gezielt mit einzelnen theoretischen Aspekten oder Interpretamenten der Honneth'schen Freiheitstheorie befassen oder aber im Ausgang von den in Das Recht der Freiheit entwickelten Fragestellungen eigene freiheitstheoretische Ansätze vorstellen. Die Anthologie schließt mit einer ausführlichen Erwiderung Axel Honneths auf eine Reihe kritischer Anfragen, die in den vorangegangenen Aufsätzen an sein Werk gestellt wurden.
Ich möchte mich an dieser Stelle beim Campus Verlag dafür bedanken, dass er den Band in sein Programm aufgenommen hat, und insbesondere der Lektorin Dr. Isabell Trommer für die Betreuung des Projekts von Seiten des Campus Verlags. Ferner danke ich Dr. Ermylia Aichmalotidou für die Erstellung der Druckfassung des Manuskripts. Der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft gebührt Dank für einen Druckkostenzuschuss. Vor allem und daher ganz zuletzt danke ich aber den Autoren für ihr Engagement und Axel Honneth für seine Bereitschaft, die kritische Auseinandersetzung mit seiner Freiheitstheorie zu erwidern. So mag dieser Band auch als Anregung zur Fortsetzung des Gesprächs dienen.

Heidelberg, 1. Februar 2018
Magnus Schlette

›Selbstverwirklichung‹ in Axel Honneths Freiheitstheorie: Eine Einleitung
Magnus Schlette
Axel Honneth erhebt mit Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit den Anspruch einer sozialphilosophischen Synthese aus normativer Gerechtigkeitstheorie und empirischer Gesellschaftsanalyse. Die begrifflichen und theoriearchitektonischen Grundlagen dieses Projekts beruhen auf Honneths Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, deren Umrisse er vor etwa fünfzehn Jahren in Leiden an Unbestimmtheit skizziert und im Recht der Freiheit zu einer umfassenden Rekonstruktion der fundamentalen Wertorientierung moderner westlicher Gesellschaften und ihrer sozialen Institutionalisierung in den verschiedenen Rechtssphären der Gesellschaft ausgezogen hat. Honneths zentrale These lautet, dass die Idee der Freiheit das Zentrum des Wertesystems der modernen westlichen Gesellschaften bildet. Aber anders als Hegel, der den Freiheitsbegriff metaphysisch an die Entwicklungsgeschichte des Geistes bindet, begreift Honneth Freiheit postmetaphysisch im Sinne individueller Chancen auf kooperative Selbstverwirklichung.
Dass Honneth der Idee der Freiheit diese Schlüsselbedeutung im Selbstverständnis der westlichen Moderne zubilligt, heißt nicht weniger als dass sie eine Kultur fundiert, in welcher der Anspruch der Individuen, sich selbst zu verwirklichen, zu einer Art zweiter Natur geworden ist: zu einer Art objektiver zweiter Natur, insofern die sozialen Kerninstitutionen Verkörperungen dieser Idee sind; zu einer Art subjektiver zweiter Natur, insofern die Individuen einen Bildungsprozess durchlaufen, in dessen Verlauf sie in die besagten Institutionen einsozialisiert werden und sich mit den in ihnen verkörperten Werten zu identifizieren lernen. Honneth ist ferner davon überzeugt, dass der begriffliche Gehalt der fraglichen Idee den zwanglosen Zwang einer objektiven, kontexttranszendierenden Vernunft ausübe. Entsprechend soll Das Recht der Freiheit die Idee der Freiheit ebenso in der Geschichtlichkeit ihrer Entwicklung wie in der kontexttranszendierenden Normativität ihres Gehalts ausweisen können. Dieses Verfahren bezeichnet Honneth als "normative Rekonstruktion". Es besagt einerseits, die Entwicklung der sozialen Institutionen im Hinblick darauf darzustellen, welchen Beitrag sie zur Einrichtung von Verhältnissen leisten, die es den Menschen ermöglichen, sich selbst zu verwirklichen. Andererseits zielt die normative Rekonstruktion darauf ab zu prüfen, wie weit die besagten Verhältnisse der in den Institutionen verkörperten Vernunft entsprechen oder hinter dem Institutionenpotential zurückbleiben.
Ist Selbstverwirklichung institutionalisierbar? Der Titel dieser Sammlung von kritischen Beiträgen zu Axel Honneths Freiheitstheorie ist von einem Aufsatz Helmuth Schelskys aus den fünfziger Jahren inspiriert. Schelsky stellte sich in "Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?" am Beispiel religiöser Organisationen und Kommunikationsformen der Frage, ob die Problematisierung sozialer Institutionen durch die "dauerreflektierte[…] Subjektivität" deren Grundbestand zwangsläufig gefährde. Mit damals ausdrücklicher Wendung gegen Gehlens Institutionentheorie bestand Schelsky darauf, dass Institutionen sich wandeln, um die "selbst- und fremdkommunikative[…] Dauerwachheit und -helligkeit des Bewußtseins", die "hellwache Selbstbewegung moderner menschlicher Innerlichkeit und Subjektivität" in sich aufzunehmen, als soziales Verhaltensmuster zu normalisieren und ihr in stabilisierten Formen der Kommunikation eine "Hintergrunderfüllung" zu ermöglichen. Schelskys Einsprache für einen Begriff flexibler Institutionen scheint mit Honneths ebenfalls forciert gegen Gehlen gewandter anerkennungstheoretischer Interpretation des hegelschen Institutionenbegriffs grundsätzlich den Anspruch zu teilen, das gesellschaftliche Allgemeine begrifflich als vereinbar mit der wachsenden Individualisierungsdynamik der Moderne zu konzipieren.
Aber während es Schelsky in der Nachfolge Gehlens wesentlich um die Belastbarkeit der Institutionen durch die sich frei artikulierende Subjektivität ging, fragt Honneth nach dem Entwicklungs- und Entfaltungspotential, das die sittlichen Institutionen der sich frei artikulierenden Subjektivität bereithalten. Seine Perspektive ist daher derjenigen Gehlens und Schelskys entgegengesetzt, sein Anspruch geht deutlich weiter. Aus der Orientierung an Hegels Theorie der Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie, deren Aufbau und Argumentationslogik von Honneth in ihren Grundzügen übernommen wird, ergibt sich die Erwartung, die Individualisierungsdynamik der Moderne als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit deuten zu können, der - mit Schelskys Worten - die hellwache Selbstbewegung moderner menschlicher Innerlichkeit und Subjektivität an dem Ziel individueller Selbstverwirklichung in den Kooperationssphären persönlicher Beziehungen, des marktwirtschaftlichen Handelns und der öffentlichen Willensbildung ausrichtet.
Die gleichsam zentripetale Rückwendung der zentrifugalen Kräfte sozialer und kultureller Individualisierung in Formen des "kooperativen Individualismus", der "kooperativen Selbstverwirklichung", benennt demnach die Entwicklungslogik der modernen Freiheitsidee, deren Substanz sich in den funktional ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen zu bewähren habe. An ihr sei auch die Kritik der gegenwärtigen sozialen Institutionen zu orientieren, sofern diese dem Vollbegriff der in dem Ideal demokratischer Sittlichkeit implizierten kooperativen Selbstverwirklichung nicht genügen beziehungsweise hinter ein bereits erreichtes Institutionalisierungsniveau individueller Freiheit durch reziprok anerkennungsgeleitete Kooperation wieder zurückfallen. Schließlich soll Honneths Theorieentwurf den Boden für die Formulierung von Rechtsansprüchen bereiten, die der einzelne billigerweise an die soziale Verwirklichung seiner Freiheit gegenüber dem gesellschaftlichen Allgemeinen stellen kann und die in Begriffen des juridisch kodifizierbaren Rechtes nicht aufgehen; dabei handelt es sich offenbar um die Bemühung, sozialen Protestbewegungen einen Legitimitätsstatus zuzuerkennen, der weder positiv-rechtlich begründbar ist noch auf die gesinnungsethische Einsprache des Einzelnen soll reduziert werden können.
Im Folgenden skizziere ich Honneths freiheitstheoretisches Projekt, wobei ich mich vor allem auf den Zusammenhang zwischen der Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie in Leiden an Unbestimmtheit und dem an Hegels Rechtsphilosophie orientierten Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit in Das Recht der Freiheit konzentriere. Ich stelle zunächst Honneths Argumentation in seiner kleinen Studie zu Hegel dar (1) und widme mich dann der Ausarbeitung der darin angelegten Grundzüge einer Freiheitstheorie in Das Recht der Freiheit (2). Allerdings beschränke ich mich auf eine - wiewohl subjektive und perspektivisch eingefärbte - komprimierte Darstellung der Theoriearchitektonik, die den Leserinnen und Lesern die Grundzüge des Projekts in Erinnerung rufen soll, auf das sich die nachfolgenden Aufsätze beziehen. Dabei handelt es sich um "eine" Einleitung - unter vielen möglichen, weil sich die beabsichtigte Darstellung von der Stellungnahme nur schwer trennen lässt und bei allem Anspruch auf Sachgerechtheit unweigerlich eine persönliche Sicht auf den Text reflektiert. Abschließend noch wenige Erläuterungen zum Aufbau des Bandes, ein kursorischer Überblick sowie eine knappe Zusammenfassung der Beiträge (3).
1. Von Leiden an Unbestimmtheit …
Das Verständnis von Freiheit im Sinne von Selbstverwirklichung ist im Werk Axel Honneths seit Kampf um Anerkennung belegt.
"Von Anfang an habe ich den Begriff der ›Selbstverwirklichung‹ in dem möglichst neutralen, kulturunspezifischen Sinn verwenden wollen, in dem sich mit guten Gründen sagen lässt, dass jeder Mensch ein tiefsitzendes Interesse an der ungestörten Entfaltung oder Verwirklichung seiner von ihm selbst als konstitutiv erlebten Persönlichkeit besitzt; um Verwechslungen […] zu vermeiden, […] habe ich häufig noch formalere Begriffe wie den der "persönlichen Integrität" oder den der "Autonomie" benutzt. Bei der Verwendung all dieser Begriffe sollte aber stets jener Aspekt von "Freiheit" im Zentrum stehen, der gemeint ist, wenn von einer "ungestörten" Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit gesprochen wird; für John Dewey, dem ich hier weitgehend folge, schließt die Idee der Selbstverwirklichung so stark die Komponenten der Ungezwungenheit, der Freiwilligkeit und der inneren Befriedigung ein, dass er nicht selten den Begriff der "self-realization" vollständig dem der "individuellen Freiheit" gleichgesetzt hat".
Diese individualperspektivische Bestimmung von ›Selbstverwirklichung‹ werde von Dewey allerdings, so Honneth, auf dem Fundament einer "intersubjektivistischen Theorie der menschlichen Sozialisation" zum Modell der Selbstverwirklichung durch Kooperation erweitert. Demnach sollen nur solche Fähigkeiten und Bedürfnisse sich zu stabilen Handlungsgewohnheiten verfestigen können, die von den Angehörigen der jeweiligen Bezugsgruppe des Subjekts anerkannt werden; die einander überlagernden Erwartungshaltungen verschiedener Bezugsgruppen stellen sicher, dass dessen Selbstverwirklichung nicht nur sozialverträglich ist, sondern in der Kooperation mit anderen ihre Erfüllung findet. Es ist diese kooperativistische Wendung des Selbstverwirklichungsbegriffs, die Honneths Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie die Stoßrichtung vorgibt. Vor allem Hegels Begriff der Sittlichkeit schätzt Honneth dabei als ein "zunehmend aktualisierungsfähiges Vorbild" ein, weil er die Voraussetzungen bereitstelle, um an den gegebenen Sozialverhältnissen "notwendige Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung normativ auszuzeichnen". Denn der Begriff der Sittlichkeit scheine die These zu beinhalten,
"daß sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zumindest der Moderne bereits Handlungssphären antreffen lassen, in denen Neigungen und moralische Normen, Interessen und Werte vorgängig schon in Form institutionalisierter Interaktionen verschmolzen sind".
Liegen aber die institutionalisierten Interaktionen den Handlungsintentionen der Individuen immer schon ermöglichend im Rücken und sind sie zugleich das Medium ihrer Verwirklichung, dann ist das Einzelhandeln intrinsisch auf sittliche Bewährung und Anerkennung angewiesen. Daraus folgt für Honneth dann auch,
"dass die Selbstverwirklichung des Einzelnen nur dann gelingt, wenn sie in ihren Zielen vermittels allgemein akzeptierter Prinzipien oder Zwecke mit der Selbstverwirklichung aller anderen Gesellschaftsmitglieder verschränkt ist".
Die Pointe von Honneths Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie besteht nun darin, durch Adaption von Hegels Begriff des ›allgemeinen freien Willens‹ die intrinsische Kooperationsbezüglichkeit der Selbstverwirklichung zu plausibilisieren und als begrifflichen Maßstab - mit Hegel - des Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit auszuweisen. Daraus ergibt sich dann auch der Maßstab der Gesellschafts- und Kulturkritik. Einerseits werden die gesellschaftlichen Institutionen daraufhin analysiert, wie weit sie empirisch hinter "den notwendigen Schritten" zurückbleiben, die sie machen müssen, um die Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung bereitzustellen. Andererseits werden die Einstellungs- und Handlungsmuster der Angehörigen unserer Gegenwartskultur daraufhin untersucht, inwiefern die ungenügende Realisierung des Institutionenpotentials ›soziale Pathologien‹ fördert, das heißt eine Verzerrung oder gar Entstellung des allgemeinen freien Willens. Durch Orientierung an Hegels Begriff des allgemeinen freien Willens wird Selbstverwirklichung mit Bestrebungen der Autonomie und Selbstbestimmung in der Tradition Kants und Fichtes identifiziert und ihnen gegenüber durch den Aspekt der institutionellen Verkörperung menschlicher Selbstbestimmungsbestrebungen spezifiziert.
Honneth legt Hegels Begriff eines allgemeinen freien Willens als Synthese aus zwei Modellen der Konzeptualisierung individueller Freiheit aus, die er als "negatives" und "optionales" Modell der Selbstbestimmung bezeichnet. Dem negativen Modell zufolge beruhe die Selbstbestimmung des Menschen auf der Fähigkeit, "sich kraft eines Willensentschlusses von all jenen ›Bedürfnissen, Begierden und Trieben‹ zu distanzieren, die als Einschränkung der Unabhängigkeit des Ich erfahren werden können"; diese abstrakte oder eben negative Freiheit gegenüber den eigenen lebensweltlichen Bindungen führe aber zur Handlungslosigkeit, weil Handeln "an die Setzung einschränkender Zwecke gebunden" sei. Das optionale Modell der Selbstbestimmung berufe sich dagegen auf das Vermögen, sich bewertend und handlungsleitend zu unmittelbar gegebenen Wünschen, Neigungen und Bedürfnissen zu verhalten. Diese "Fähigkeit der reflektierten Wahl" bringe indessen allenfalls eine Abwägung des unverfügbaren und insofern heteronomen Materials unserer Willensentscheidungen zustande. Führe also das negative Modell der Selbstbestimmung zur Formalisierung des freien Willens, so beschränke das optionale Modell ihn auf eine gegenüber unseren heteronomen Lebensverhältnissen bloß nachträgliche Deliberation; im ersten Fall bleibe die Freiheit unbestimmt, im zweiten sei sie gleichsam halbiert. Und Honneth folgt Hegels klassischer Formulierung, wie eine Synthese dieser beiden Freiheitsmodelle zu denken sei, nämlich als ›Bei-sich-selbst-sein-im-Anderen‹: "Wir sind nur dort wirklich frei", so seine affirmative Erläuterung des hegelschen Kerngedankens,
"wo wir unsere Neigungen und Bedürfnisse so zu gestalten wissen, daß sie auf das Allgemeine sozialer Interaktionen gerichtet sind, deren Vollzug seinerseits als Ausdruck uneingeschränkter Subjektivität erfahren werden kann".
Dies sei nun - und auch darin glaubt Honneth den ›Geist‹ der Rechtsphilosophie zu treffen - in den sittlichen Teilsphären der Kleinfamilie, des Marktes und des Staates der Fall. So trage die Kleinfamilie zur Vergesellschaftung menschlicher Bedürfnisse durch deren Hineinbildung in Verhältnisse wechselseitiger Unverzichtbarkeit bei, die Sphäre des Marktes zur Ausbildung des Bewusstseins, eine individualisierte Rechtsperson zu sein, die ihre Existenz in frei gewählten und strukturell symmetrischen Austauschbeziehungen mit anderen ihresgleichen hat; unter den Begriff des Staates fallen demnach diejenigen Formen von Sozialität, welche die Individualisierung des Einzelnen durch aktive Partizipation an der Reproduktion des Gemeinwesens steigern. Insgesamt fasst Honneth diese drei Gestaltungsbereiche des ›Bei-sich-selbst-seins-im-Anderen‹ unter den Begriff institutionalisierter Rechtssphären, die durch Ansprüche reziproker Anerkennung des jeweils Anderen als alter ego der eigenen Freiheit charakterisiert ist. Honneths Aktualisierung von Hegels Modell des allgemeinen freien Willens läuft daher auf einen Begriff der Versittlichung von Selbstverwirklichung durch affektive Selbstvervollkommnung im Angesicht des vertrauten Anderen (Stichwort ›Familie‹), durch Ausdifferenzierung und Nuancierung persönlicher und persönlichkeitsbildender Interessen in der verpflichtenden Reziprozität des markt-vermittelnden Handelns (Stichwort ›Markt‹) sowie durch gemeinwohl-orientierte Kooperation (Stichwort ›Polis‹) hinaus; in den Institutionen von Familie, Markt und Polis werden die Maßstäbe gelungener Selbstverwirklichung verortet.
Damit sind dann zugleich auch die Maßstäbe der objektiven Vernunft individueller Lebensführung benannt. Denn in der Sphäre der Sittlichkeit sind, mit den Worten Stekeler-Weidhofers, "die realbegrifflichen Grundlagen" verkörpert, auf denen die "Urteils- oder Richtigkeitskriterien einer temporal und lokal eingeklammerten Gegenwart und ihrer Praxisformen" , das heißt hier: die Kriterien der Richtigkeit des familiären, marktförmigen oder gemeinwohlorientierten Handelns beruhen. Noch die Kritik der Lebensverhältnisse wird auf dem Boden der realbegrifflichen Grundlagen formuliert, die sich ihrerseits einer langfristigen geschichtlichen Entwicklung verdanken: "Solange die Subjekte die freiheitsverbürgenden Institutionen in ihrem Handeln aktiv aufrechterhalten und reproduzieren, darf das", so Honneth, "als theoretischer Beleg für ihren geschichtlichen Wert gelten" . Dieser Freiheitsbegriff besitze "ein höheres Maß an Übereinstimmung mit vortheoretischen Intuitionen und sozialen Erfahrungen, als es den anderen Freiheitsvorstellungen der Moderne je möglich gewesen ist". Hegels metaphysischer Fortschrittsbegriff wird, so könnte man vielleicht sagen, durch das Vertrauen in die Gestaltrichtigkeit intuitiver Angemessenheitsurteile über die sphärenspezifischen Reziprozitätsleistungen der sozialen Institutionen ersetzt.
2. … zu Das Recht der Freiheit
Honneth hat die Grundlinien seiner Aktualisierung der hegelschen Rechtsphilosophie in Das Recht der Freiheit zu einer sozialphilosophischen Synthese aus Gerechtigkeitstheorie und Gesellschaftsanalyse ausgezogen, welche die Stufen der Institutionalisierung sozialer Freiheit und damit der Bedingungen kooperativer Selbstverwirklichung in der westlichen Moderne historisch und systematisch zu rekonstruieren beansprucht. Bereits die Kapitelüberschriften des Inhaltsverzeichnisses präsentieren die rechtliche und die moralische Freiheit explizit nur als "Möglichkeit der Freiheit" in dem doppelten Sinne, dass es sich dabei zwar um notwendige, aber nicht hinreichende Ermöglichungsbedingungen individueller Freiheit handele. Dabei gilt wiederum die rechtliche, jetzt auch allgemeiner als negativ bezeichnete Freiheit als Voraussetzung dafür, dass sich ein moralisches Freiheitsbewusstsein überhaupt ausbilden kann. Denn die rechtliche Freiheit der Individuen bestehe darin, "nicht durch äußere Widerstände daran gehindert zu werden, ihre selbstgesetzten Ziele zu realisieren"; und in den modernen liberalen Gesellschaften herrsche "von Beginn an", so Honneth, Einigkeit darüber,
"daß sich die Individuen nur dann überhaupt als unabhängige Personen mit einem eigenen Willen verstehen können, wenn sie über subjektive Rechte verfügen, die ihnen einen staatlich geschützten Spielraum zur Erkundung ihrer Vorlieben, Präferenzen und Absichten einräumen".
Die durch die staatliche Garantie subjektiver Rechte gewährleistete rechtliche Freiheit erzeugt demnach allererst das Klima, in dem die zarte Pflanze moralischer Freiheit gedeihen kann. Aber erst die soziale Freiheit kündigt Honneth als "Wirklichkeit der Freiheit" an und versteht darunter den Inbegriff der institutionellen Errungenschaften, auf die sich der individuelle Freiheitsvollzug im recht verstandenen Sinne verlassen können muss.
Allerdings nimmt Honneth nun aus Gründen der terminologischen Feinjustierung die Verwendung des Kompositums hinter die Rede von der individuellen Freiheit zurück. So soll die Selbstverwirklichung begriffslogisch nach dem Schema von genus proximum und differentia specifica nur ein Aspekt individueller Freiheit sein und als solcher der Selbstbestimmung untergeordnet werden. Diese Unterordnung scheint ganz der in Leiden an Unbestimmtheit vollzogenen Angleichung des Begriffs der Selbstverwirklichung an den des allgemeinen freien Willens in Hegels Rechtsphilosophie zu entsprechen, bedeutet aber vielleicht auch eine größere Würdigung des Eigensinns der Selbstverwirklichung gegenüber der Selbstbestimmung: Zwar heißt es, die Idee der Selbstverwirklichung habe derjenigen der Autonomie oder Selbstbestimmung "am Ende nur weitere Tiefenschichten verliehen", aber immerhin wird ihr erstens diese Bereicherung attestiert und sie nun zweitens einer romantischen Tradition zugebilligt, die in Leiden an Unbestimmtheit ausschließlich aus der Perspektive der hegelschen Kritik am romantischen Individualismus in den Blick geriet. Zu dem Motiv einer größeren Würdigung des Eigensinns von Selbstverwirklichung passt darüber hinaus, dass Honneth nun eine Binnenunterscheidung zwischen der Idee der Selbstverwirklichung und derjenigen der Authentizität vorschlägt, wonach es im ersten Fall um das Projekt einer narrativen Einheitsstiftung des eigenen Lebens geht, im zweiten um die ästhetisch möglichst feinsinnige Artikulation eigener Wünsche.
Um zu betonen, dass es sich bei der Selbstbestimmung, der Suche nach Authentizität und der Selbstverwirklichung um Verästelungen eines gemeinsamen Stammes, nämlich der Entwicklung eines kollektiven Selbstverständnisses individueller Freiheit handelt, fasst Honneth sie nun auch gesamthaft unter den Begriff der reflexiven Freiheit, wonach dasjenige Individuum frei ist, "dem es gelingt, sich auf sich selbst in der Weise zu beziehen, daß es sich in seinem Handeln nur von eigenen Absichten leiten läßt". Im weiteren Verlauf der Argumentation tritt die Auseinandersetzung mit den reflexiven Freiheitsaspekten der Selbstverwirklichung und der Suche nach Authentizität dann wieder hinter die Thematisierung des Leitmodells der reflexiven Freiheit, also der Autonomie oder Selbstbestimmung zurück. Wirklich ins Gewicht fallen diese terminologischen Verschiebungen meines Erachtens aber nicht. Denn Honneth hält in Das Recht der Freiheit daran fest, "daß es geeigneter Institutionen, nämlich Institutionen der wechselseitigen Anerkennung, bedarf, um der reflexiven Freiheit des einzelnen tatsächlich zur Verwirklichung zu verhelfen" : Vertieft sich die Selbstbestimmung im Gefolge des romantischen Expressivismus in der Selbstverwirklichung, so kommt diese erst in der sozialen Freiheit zu sich.
Der Sache nach übernimmt Honneth also das Ideal kooperativer Selbstverwirklichung aus seiner anerkennungstheoretischen Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie in Leiden an Unbestimmtheit, auch wenn er den Referenzbereich des Kompositums nun auf eine Spielart der reflexiven Freiheit einschränkt. Die reflexive Freiheit hat ihr Telos in der sittlichen Verwirklichung der Person und wird diesem Telos allenfalls im Grenzfall durch die Einsprache gegen Verhältnisse folgen, die dem Geist der Sittlichkeit, d.h. der Institutionalisierung sozialer Freiheit widersprechen beziehungsweise hinter einen historisch bereits erreichten Institutionalisierungsgrad zurückfallen. Und schließlich bleibt Honneth in Das Recht der Freiheit auch bei der Zurückführung sozialer Pathologien auf Verselbständigungen und Verabsolutierungen der vorsozialen Freiheitsvarianten gegenüber dem Ideal der kooperativen Selbstverwirklichung. Pathologisierte Formen der Selbstverwirklichung beruhen demnach auf einer Abspaltung derjenigen Selbstbeziehung, in der sich der Einzelne in seinem Handeln nur durch eigene Absichten leiten lässt, von ihrer kooperativen Verbundenheit mit dem Anderen. Die Wirklichkeit der reflexiven Freiheit, anders formuliert: die soziale Freiheit kooperativer Selbstverwirklichung stellt Honneth sich demgegenüber nun so vor,
"daß in der Sphäre persönlicher Beziehungen die individuellen Bedürfnisse und Eigenschaften, in der Sphäre des ökonomischen Marktes die jeweils partikularen Interessen und Fähigkeiten der einzelnen und in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit schließlich die individuellen Absichten der Selbstbestimmung soziale Gestalt annehmen und intersubjektiv zur Verwirklichung kommen".
Indessen - es mag Honneth die Ahnung beschlichen haben, dass er der Selbstverwirklichung mehr aufbürdet als sie zu tragen vermag. Daher dann auch die Eingrenzung des begrifflichen Anwendungsbereichs für das fragliche Lexem. Folgen wir seiner Argumentation, dann wird sich das Ideal der Selbstverwirklichung recht verstanden erst dann realisiert haben, wenn die Durchsetzung der unterschiedlichen Teilsphären sozialer Freiheit zur zweiten Natur des kooperativen Individualismus geworden ist. Selbstverwirklichung wäre dann gebunden an die Anknüpfung verlässlicher individualisierter Freundschaften, an den Aufbau symmetrischer Intimbeziehungen und die Triangulation familiärer Rollenbeziehungen, ferner an die kooperative Sondierung einander ergänzender Interessen in der gesellschaftlichen Konsumsphäre, an die wechselseitige Anerkennung als Gleiche unter Gleichen auf dem Arbeitsmarkt sowie schließlich an das solidarische Engagement einer gemeinwohlorientierten öffentlichen Mitwirkung an der politischen Gewährleistung all dieser Reziprozitätstypen. Folgen wir der anfangs erinnerten Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver zweiter Natur, dann heißt das einerseits, dass sich in den sittlichen Institutionen der Gesellschaft der Geist kooperativer Selbstverwirklichung verkörpert; andererseits durchlaufen demnach die Individuen eine Bildungsgeschichte kooperativer Selbstverwirklichung, in der sie Einstellungsmuster ausprägen, die sich in den Freiheitssphären der Sittlichkeit bewähren.
Damit ist nicht gesagt, dass jeder Mensch, der auf der Höhe der objektiven Vernunft sein will, Intimbeziehungen eingehen, eine Familie gründen und sich gemeinwohlorientiert engagieren muss. Es heißt aber, dass er ein Sensorium entwickelt, das für den normativen Sinn dieser Institutionen empfänglich ist, dass er sich ferner in seinem Lebensvollzug diesen normativen Erwartungen stellt und dass schließlich seine faktisch getroffenen Lebensentscheidungen eine objektive Sinnstruktur aufweisen müssen, die dem Geist der Sittlichkeit entspricht. Das ist nicht wenig. Ganz offensichtlich fällt schon aus begrifflichen Gründen ein großes Spektrum von Lebensvollzügen, die prima facie Ausdruck moderner Individualisierungsdynamiken zu sein scheinen, auf die Seite pathologischer Aberrationen; gesellschaftliche Entwicklungstrends, die dem Vollbegriff kooperativer Selbstverwirklichung nicht entsprechen, scheinen als Stagnation oder Rückschritt verbucht werden zu müssen.
Lässt sich individuelle Freiheit, durchaus in dem von Honneth betonten Sinne, "in dem sich mit guten Gründen sagen lässt, dass jeder Mensch ein tief sitzendes Interesse an der ungestörten Entfaltung oder Verwirklichung seiner von ihm selbst als konstitutiv erlebten Persönlichkeit besitzt" , sozial bändigen? Honneths Anlehnung seiner Theoriearchitektonik an die hegelsche Rechtsphilosophie legt die Fragen nahe, ob sein Versuch, aus den verwirklichten Institutionen der Freiheit Maßstäbe einer material fundierten Gerechtigkeitstheorie zu entnehmen, auf einem bezweifelbaren Sozialoptimismus oder gar Sozialkonformismus beruht. Im ersten Fall würde den sozialen Institutionen mehr Kohäsionskraft zur Bindung individueller Freiheitsbestrebungen zugetraut als sie tatsächlich besitzen, im zweiten diesen Bestrebungen mehr Potential genuin sozialer Entfaltung abverlangt als sie zu bieten haben. So ist zumindest fraglich, ob die ästhetische und die religiöse Subjektivität in ihrem komplexen Spannungsverhältnis zum sozialen Allgemeinen angemessen berücksichtigt werden. Es ist aber bereits fraglich, ob der Freiheitsidee in der Fassung, die Honneth ihr gibt, überhaupt die ihr zugebilligte herausragende Stellung im Wertesystem der Gesellschaft zukommt, und schließlich, noch grundsätzlicher, ob die normative Rekonstruktion gesellschaftlicher Entwicklungen anhand der Idee der Freiheit überhaupt eine sozialtheoretisch erfolgsversprechende Strategie ist, um das Projekt einer Synthese aus normativer Gerechtigkeitstheorie und empirischer Gesellschaftsanalyse zu verwirklichen.

Beschreibung
Axel Honneth erhebt in "Das Recht der Freiheit" den Anspruch einer sozialphilosophischen Synthese aus normativer Gerechtigkeitstheorie und empirischer Gesellschaftsanalyse. Seine zentrale These lautet, dass die Idee der Freiheit - und zwar im Sinne der individuellen Chancen auf kooperative Selbstverwirklichung - im Zentrum des Wertesystems der modernen westlichen Gesellschaften steht. Die Beiträger dieses Bandes setzten sich kritisch mit Axel Honneths Freiheitstheorie auseinander.

Mit Beiträgen von Helge Dedek, Hans Diefenbacher, Josef Früchtl, Christoph Halbig, Christoph Henning, Cornelia Klinger, Wolfgang Knöbl, Georg Lohmann, Enno Rudolph, Rolf Schieder, Dieter Thomä, Patrick Wöhrle - und mit einer Replik von Axel Honneth.

Über Magnus Schlette

Magnus Schlette ist Referent für Philosophie an der FEST in Heidelberg und Privatdozent für Philosophie an der Universität Erfurt.