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Agon und Ares

Agon und Ares

Der Krieg und die Spiele

Agon und Ares
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Veröffentlicht 2016, von Ernst Strouhal bei Campus

ISBN: 978-3-593-50563-3
Auflage: 1. Auflage
Reihe: Schauplätze der Evidenz
397 Seiten
zahlr. farbige Abbildungen
21.3 cm x 14 cm

 

Vom Zinnsoldat zu Call of Duty



Kriegsspiele sind Echo wie Lautsprecher von Kriegsbegeisterung und -hetze, sie erzählen ein dunkles, bislang kaum bekanntes Kapitel der materiellen Kultur: Ritterburgen und Belagerungsspiele, Holzschwerter und Gewehrattrappen bedienten seit Jahrhunderten puerile Phantasien, ebenso die unzähligen Jeux ...
Textauszug

Einleitung


Ernst Strouhal


I


Der Krieg, der Vater aller Dinge, gebiert Monstren - darunter Menschen und Spiele. Von allen grauenvollen Figuren im Pandämonium von Karl Kraus' Letzten Tagen der Menschheit ist der Volksschullehrer Zehetbauer wohl eine der grauenvollsten. Im ersten Akt empfiehlt der kriegsbegeisterte Lehrer den Kindern, sich "zur Belohnung für Fleiß und gute Sitten" das Spiel Russentod oder Wir spielen Weltkrieg, ein Rollenspielbuch zum Vorlesen, zu wünschen. Nichts ist erfunden: 1914 war tatsächlich der Band Wir spielen Weltkrieg! Ein zeitgemäßes Bilderbuch für unsere Kleinen von Ernst Kutzer und Armin Brunner in Wien erschienen. Eine kleine Kinderschar und der zum Kriegshund avancierte Caro ziehen unerschrocken in den Krieg, das Kinderzimmer verwandelt sich Bild für Bild in ein Schlachtfeld, eine Nähmaschine wird zum Maschinengewehr.


Im selben Jahr hatte der Spieleverlag Josef Scholz in Mainz Feuernde Mörserbatterie auf den Markt gebracht. Das "zeitgemäße Gesellschaftsspiel für Jung und Alt" war eine Feierstunde der Artillerie: Auf dem Spielbrett waren Kanonen in Aktion, die eine Festung unter Beschuss nehmen und zerstören sollen.


Je näher der Krieg rückte, desto stärker wurde in den Kinderzimmern aufgerüstet. Zusehends wurde das Publikum auf Vaterlandstreue eingeschworen, Feindbilder wurden in den Erzählungen der Gesellschaftsspiele konstruiert und durch karikatureske Grafiken eingeprägt. Die politische Indienstnahme der Spielwelten betraf alle Genres des Spiels. Aufstell- und Verwandlungsspiele ästhetisierten das Kriegsgeschehen, Brettspiele beförderten die soldatischen Tugenden und zeichneten auf ihren Spielplänen die politischen Landkarten neu, Puzzles und Kartenspiele belehrten über die nun geltende Auffassung von Geschichte und informierten auf ihren Bildtableaus über die neuen Helden und die aktuell Verbündeten. Auch die Firma Märklin passte ihr Sortiment zu Kriegsbeginn dem neuen Markt an: Die Spielwaren im Katalog für 1915 vermitteln detailliertes Wissen über das technisch superiore Waffenarsenal der Achsenmächte im Krieg zu Lande, in der Luft und zur See. Die Käufer und Käuferinnen konnten zwischen funktionstüchtigen Panzerzügen mit Uhrwerkbetrieb, Granatenwerfern im Liliputformat, Kriegsschiffen und armierten Zeppelinen wählen.


Bellizistische Spiele dieser Art sind Echo wie Lautsprecher der Kriegsbegeisterung in Europa, sie erzählen ein dunkles, kaum bekanntes Kapitel aus der Faszinationsgeschichte des Krieges und aus der Geschichte der Spiele. Die Spielkultur evoziert nicht Kriegsbegeisterung, sondern bildet ein adäquates Überlaufgefäß für die bereits vorhandenen chauvinistischen Affekte. Bei der Gestaltung konnten die Verlage auf eine lange Tradition der Kriegsspiele zurückblicken. Die Zinnsoldaten und Ritterburgen, Holzschwerter und Gewehrattrappen bedienten seit Jahrhunderten puerile Fantasien, ebenso die unzähligen Brettspiele mit Kriegsthemen und frühe, sehr aufwendige Kriegssimulationen, die in der Offiziers- und Pagenausbildung des 18. Jahrhunderts Verwendung fanden und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vereinfachter Form auf den rasch expandierenden Spielemarkt drängten.


Zumeist wird bei der Gestaltung von Kriegsspielen auf die Regelwerke vorhandener Spiele zurückgegriffen. Der Konflikt wird allerdings auf narrativer und visueller Ebene konkretisiert und aktualisiert: Fiktive Kampfhandlungen und Orte werden in konkrete Schlachten von realen Armeen an realen Orten umgearbeitet. Die symbolische, vieldeutige bzw. abstrakte Darstellung eines Konflikts weicht einer mimetisch möglichst perfekten Simulation realen Geschehens, das heterotopische Element, das allen Spielen innewohnt, schwindet zusehends zugunsten bloßer Abbildung. Die Verengung auf narrativer Ebene wird dabei nicht selten von einer bis ins Monströse gesteigerten Erweiterung der Topografie und der Grammatik des Spiels begleitet, sodass die Erzählung vom Krieg und seinen Spektakeln die Spielbarkeit und Dynamik des Spiels dominiert.


II


Kriegsspiele sind Kältekammern der Geselligkeit. Ihr Spiel erfordert ein durch und durch gepanzertes Ich des Spielers, das Spielbewusstsein ist dabei in hohem Maße ambivalent: Einerseits muss während des Spiels vergessen werden, dass gespielt wird (ansonsten wäre jedes Spiel bloß langweilig), andererseits muss jedes Spiel auch im Bewusstsein, dass bloß gespielt wird, erfolgen (ansonsten wäre das Spiel wie der Krieg selbst unerträglich, unendlich bösartig, unendlich grausam). Im "Zauberzirkel des Spiels" (Johan Huizinga) sind hemmende Über-Ich-Instanzen zwar außer Kraft gesetzt, allerdings bleibt das Spiel, und im Besonderen das Kriegsspiel, ein Raum voller bürokratischer Regeln, die keinen Ermessensspielraum lassen und denen sich der Spieler unterwirft. Unklar ist, inwieweit er spielt oder vom Spiel gespielt wird und ob sich die Lust am Kriegsspiel aus der spielerischen Aktivität oder Passivität speist.


Die Darstellung des Kriegs im Spiel war und ist niemals neutral. Von Weickhmanns Königsspiel aus dem Jahr 1664 bis zu den Computerspielen der Gegenwart, vom indischen Tschaturanga bis zu Alice Becker-Hos und Guy Debords Kriegsspiel aus dem Jahr 1987 wird ein bestimmtes Konzept von Sachlichkeit und Kälte als (männliches bzw. pueriles) Ideal bürgerlicher Subjektivität eingeübt. Imaginiert und legitimiert wird via Spiel die Vorstellung eines spieltheoretisch idealen, "sauberen" Kriegs mit geometrisch exakten Bewegungen auf diskreten Feldern, mit rationalen Entscheidungen und bestimmbaren Zielen. Prima vista muten Kriegsspiele daher als Modelle oder spielerische Inszenierungen der Schriften von Carl von Clausewitz (1780-1831) zum Krieg an. Krieg erscheint bei Clausewitz allerdings nicht als rationales Spiel mit vollständiger Information, im Krieg nehmen, so Clausewitz, "mit dem Zufall das Ungefähr und mit ihm das Glück einen großen Platz ein". Krieg ist bei Clausewitz Kontingenzmanagement, eher ein Karten- als ein Schachspiel, der Ausgang des Spiels ist kaum planbar.


Das Spektrum der Kriegsspiele ist wie das Spektrum der Spiele selbst sehr breit. Jede Arbeit über Spiele steht daher vor der schlechten Wahl der Engführung des Begriffs, die seine Verbindung zur Kultur des Festes und zum Sport vermissen lässt, oder der Verwendung eines weiten Spielbegriffs, der allerdings leicht Gefahr läuft, beliebig zu werden. In seinem Klassiker Die Spiele und die Menschen hat der französische Philosoph und Schriftsteller Roger Caillois vier Grundtypen des Spiels unterschieden: Agon (der Wettkampf, das Spiel der Konkurrenz), Alea (das Glücksspiel, das Spiel mit dem Schicksal), Mimikry (das Theater, das Spiel mit Masken und Identitäten) und Ilinx (die Spiele des Körpers und des Rausches). In diesem Band wurde der Schwerpunkt auf agonale Gesellschaftsspiele und auf die Beschreibung des Verhältnisses von Agonalität und Krieg, Agon und Ares, gelegt. Es wurde versucht, Einblick in das wenig bekannte, doch materialreiche Archiv der Kriegsspiele zu nehmen. Die Engführung erfolgte aus einem einfachen Grund: Es gibt genug zu tun. Obwohl heute längst ein Global Player in der Kultur- und Freizeitindustrie, ist die Geschichte der Gesellschaftsspiele nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte der Kulturwissenschaften.


In den einzelnen Beiträgen werden bellizistische Spiele bzw. Kriegssimulationen in unterschiedlichen Kontexten betrachtet, das heißt, es wird versucht, Bezüge gleichzeitig sowohl zu den zeithistorischen als auch zu spielhistorischen Entwicklungen auf den Ebenen des Regelwerks, der Narration und der visuellen Inszenierung der Spiele herzustellen. Nicht zuletzt sollen durch umfangreiche Bildstrecken seltene Bilddokumente, Spielpläne und Regelkompendien zugänglich gemacht werden. Der Zeitraum reicht - bei allen notwendigen Vorgriffen in die Spielgeschichte - von etwa Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Wesentliche Aspekte sind dabei die Möglichkeiten und Grenzen von spieltheoretischen Modellen und Simulationen, die Produktion von Feindbildern via Spiel, Umfang und ideologische Funktion von Spielen rund um die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert in Europa, aber auch in Japan, Israel und in der Sowjetunion. Im letzten Abschnitt wird die Frage nach Kontinuität und/oder Wandel des Kriegsspiels im Computerspiel am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts gestellt. Gefragt wird schließlich nach den Spezifika des Mediums im Vergleich zu anderen Medien der Kriegspropaganda. Durch Spiele wird niemand überzeugt, doch Spiele dringen tiefer als andere Medien der Propaganda in den intimen Raum der Familien vor. Zu betonen ist dabei, dass es sich bei diesen Spielen in den seltensten Fällen um staatliche Propaganda handelt, sondern um kommerzielle Produkte. Gefragt wird schließlich, welche Vorstellungen von Krieg Spiele repräsentieren und vermitteln, und umgekehrt, welche Konzepte von Spiel unseren Vorstellungen vom Krieg (siehe Clausewitz oben) zugrunde liegen. An Vollständigkeit war nicht gedacht und ist nicht zu denken, doch durch die zunehmende Virtualisierung von Kriegshandlungen (zumindest aufseiten der Aggressoren) und durch die bedenkliche, aber durchaus gängige Vorstellung einer Gamifizierung von Krieg erscheint das Problemfeld des Bandes heute aktueller denn je.


Die Vielgestaltigkeit des Archivs der Spiele erfordert Vielstimmigkeit. Zu Wort kommen deshalb Spieltheoretiker und Kulturwissenschaftlerinnen, Militärhistoriker, Sammler, aber auch Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. So unterschiedlich die Zugänge und Blickwinkel in den einzelnen Beiträgen auch sind, gemeinsam ist allen Autorinnen und Autoren die Auffassung vom Spiel als eine zwar besondere, aber nicht gesonderte kulturelle Praxis des Menschen. Wie jede Form kultureller Praxis des Menschen charakterisieren auch Kriegsspiele in ihren Regeln, in den Erzählungen und in ihrer materiellen Kultur, die sie ausbilden, auch die gesellschaftlichen Spielregeln, den sozialen Kontext und die Epoche, in denen sie gespielt werden. Über die Wirksamkeit eines Spiels entscheidet weder die Intention des Produzenten noch der kulturelle Mechanismus der Prädikation von Spielmechanismus und Narration, der Krieg, sondern die Pragmatik des Spiels: Die Bedeutung des Spiels ergibt sich aus seinem Gebrauch in einer konkreten Spielhandlung.


Umfriedung, Theater und Rausch des Krieges im Spiel. Ein Gespräch


Helmut Lethen, Thomas Macho


In welcher Beziehung stehen Agon und Ares, steht das Moment des Agonalen des Spiels zum Krieg? Spiele, auch agonale Spiele, gehören zu den elementaren Kulturtechniken der Menschen; Ares ist bei Menschen wie auf dem Olymp ein ungeliebter Gott, freilich, nicht zuletzt Freud wusste das, ist er unsterblich, so wie alle Götter. Wird Ares, der wütende Gott, im agonalen Spiel eher gebannt oder wird er beschworen - bzw. wie kann man das Verhältnis von Agonalität und Krieg beschreiben?


Helmut Lethen: Eine zentrale Kategorie in der Anthropologie des Spiels von Johan Huizinga ist die Umfriedung, also der gehegte Krieg. Gehegt wie im normalen Format eines Brettspieles. Der Niedergang des Diskurses über das Kriegsspiel hängt damit zusammen, dass diese Umfriedung nicht mehr funktioniert. Die Kriege sind asymmetrisch geworden. Es kommen Faktoren außerhalb des Spielbretts aufs Tableau des Kriegsspieles, die vorher nicht mit einberechnet wurden. Ich glaube, dass Huizingas wunderbarer Begriff der Umhegung zerbrochen ist.


Thomas Macho: Ich bin mir nicht so sicher, ob sich ein Niedergang des Diskurses über das Kriegsspiel ereignet, weil die Simulationstechnik, die inzwischen mithilfe von Computern möglich ist, derartige Höhen erklommen hat - ich denke zum Beispiel an die letzten Dokumentationen von Harun Farocki, Ernste Spiele 2009/10, die Kriegsspiele bzw. Kriegsspieler im Einsatz zeigen. Hier kann man nicht mehr unterscheiden, ob sie Krieg führen oder nur simulieren, proben und trainieren. Die Umhegung geht insofern verloren, als diese Sphären immer mehr zu verschmelzen scheinen. Vielleicht muss man eine ganz neue Art von Diskurs über Krieg und Spiel führen; doch bildet gerade der Bildschirm immer noch eine Art von Umhegung.


Lethen: In den klassischen Spieltheorien spielt der "heilige Ernst" des Spiels eine große Rolle, und das hat ja im Augenblick eine absolut fatale Auswirkung: Im heiligen Ernst der modernen Kriegsführung ist schon die Selbstzerstörung inbegriffen, und zwar im Begriff des Heiligen. Das hatten die klassischen Theoretiker nicht vorhergesehen. Dass ausgerechnet das Heilige des Ernstes die Grenzen der Umfriedung verbrennt, das ist etwas sehr Neues.


Spiel wird im Zeichen der Virtualisierung und Simulation auf der einen Seite dem Krieg immer ähnlicher, andererseits geht in der permanenten Aufladung des Krieges als gerechter Krieg, als heiliger Krieg, das spielerische, den Krieg begrenzende Element verloren?


Macho: Ich würde zwischen dem heiligen und dem gerechten Krieg unterscheiden. Der heilige Ernst, der Huizinga in der Spieltheorie sehr interessiert, kann noch mit der umhegten Form durchaus übereinkommen, zumindest gelegentlich. - Wir sind dagegen eher mit dem Ernst des Heiligen konfrontiert als mit dem heiligen Ernst. Der heilige Ernst bedeutet: Im Moment, in dem ich das Spiel spiele, muss ich es auch ganz spielen, ich kann nicht gleichzeitig im Spiel und außerhalb des Spiels sein. Das Spiel fordert eine Haltung der Radikalität und Totalität bei Huizinga. Wer spielt, meint es ernst. Der Ernst des Heiligen zielt dagegen auf eine Erfahrung der Selbstzerstörung, die zwar jemand, der in den Krieg zieht, immer auch zu machen bereit ist; gegenwärtig aber werden Kriege und Konflikte ausgetragen, in denen die Selbstzerstörung unverzichtbar und zentral geworden ist, weil der Angriff selbst so funktioniert, dass der Angreifende dabei sterben muss. Das Suizidattentat ist übrigens nicht ganz neu; es hat schon in den anarchistischen russischen Terrorpraktiken nach der vorletzten Jahrhundertwende eine bedeutende Rolle gespielt. Was Camus in seinem Drama Die Gerechten darstellt, zielt auf diese Legitimation des Terroristen, der bekennt, er werde selbst beim Anschlag sterben, entweder direkt, wenn er sich mit der Bombe vor die Kutsche des Großfürsten wirft, oder indirekt, weil er am nächsten Tag hingerichtet wird.


Beginnt das Heilige zu ernsten, weil es nicht mehr in ein Ritual eingebettet ist?


Macho: Das Heilige des Selbstopfers beginnt zu ernsten, darauf beruht die eine Idee. Die andere Idee entwirft auf bestimmte Weise ein Naheverhältnis des Heiligen zum Nichts. Das nihilistische Zentrum des Heiligen, das darin immer deutlicher hervortritt, bildet auch ein Thema der Freud-Vorlesung von Slavoj Žižek über den göttlichen Todestrieb, in der er das Heilige im Horizont einer negativen politischen Theologie reformuliert. Wenn Gott das Nichts ist, wie im Buddhismus, aber auch in manchen Varianten der Mystik, kann ich mich ihm gerade durch Selbstvernichtung nähern.


Lethen: Ist es überhaupt möglich, die neuen Kriege oder Konflikte mit Gewaltpotenzial, also etwa das brennendste Problem der Gegenwart, die Migrationsströme, in den Kategorien des Spiels zu erfassen? Vielleicht hängt die große Hilflosigkeit und Ratlosigkeit der Politik damit zusammen, dass das eine gleitende Situation ist, die man schwer simulieren kann. Jedes Spiel erfordert ja einen geschlossenen Raum, wo Zug um Zug gespielt wird und wo nicht ständig neue Spielregeln hinzukommen können.


Durch diese Idee der Geschlossenheit des Spiels müssen etwa diese migrantischen Bewegungen in einer Rolle erscheinen, die auch bei Huizinga vorbereitet ist, und zwar in der Rolle des Spielverderbers, der die Regeln verändert und den "Zauberkreis des Spiels" bricht. Aber da stellt sich die Frage, sind diese "Störfaktoren" nicht wesentliche Elemente? Eine ungestörte Modellierung von Wirklichkeit als Spiel kann nur durch Amputation sehr wesentlicher "störender" Elemente erreicht werden.


Lethen: Es gibt Verschwörungstheorien, die solche geheim wirksamen Spielregeln in Bezug auf die Migrantenströme zu entdecken glauben: Soros zum Beispiel habe die Ströme mit dem Ziel in Gang gebracht, Europa finanziell zu ruinieren. Der Spielcharakter kehrt in Verschwörungstheorien wieder. Die Migranten sind einerseits die Spielverderber, aber auch Spielfiguren in einem geheimen Spiel, das es aufzudecken gilt.


Der Sinn der Spieltheorie in Konfliktsituationen in Politik oder Wirtschaft wäre ja, zu besseren Prognosen über Ausgang und Verhalten der Spielenden zu kommen. Aber lässt sich so etwas nach 1989 in dieser Weise modellieren, begegnen uns nicht ganze Herden von Schwarzen Schwänen, die uns ständig zwischen die Beine laufen?


Macho: Die Hochzeit der Assoziation und Annäherung von Krieg und Spiel war der Kalte Krieg. Der Kalte Krieg hatte eine sehr klare, ausgeprägt agonale Struktur: Es gab zwei auf Augenhöhe operierende Gegner und man brauchte sowohl die Spieltheorie als auch die zahllosen Simulationen, um sich die strategischen Möglichkeiten, die in der agonalen Grundstruktur angelegt waren, vergegenwärtigen zu können. In dieser Hinsicht stand auch die Evolution von Computernetzwerken und komplexen Simulationsprogrammen mit dieser Art von politischer Spielpraxis in engem Zusammenhang. Seit 1989 ist diese Konjunktur von Krieg und Spiel vorbei, weil wir eben diese agonale Grundstruktur der Welt nicht mehr imaginieren können. Der Kalte Krieg ist vorüber, auch wenn es gegenwärtig Versuche geben mag, ihn wiederzubeleben. In dieser Zeit konnten Kriege teilweise vermieden werden, indem sie durch die unglaublichen, auch immer wieder durch neue Referenzialisierungsstufen gesteigerte Formen des Spiels getrieben wurden. Aber gegenwärtig herrscht eine ganz andere Art von Spiel. Dieses Spiel hat mit den Figuren des Spielverderbers schon etwas zu tun, also mit jenen Akteuren, die die Regeln nicht respektieren. Das Faszinierende am Kalten Krieg bestand ja darin, dass man davon ausgehen konnte, dass alle Kontrahenten bestimmte Grundregeln beachten mussten. Man würde den anderen zwar gern vernichten, aber nicht so, dass man dabei selbst vernichtet wird. Das war eine banale Regel; aber sie hat heute ihre Geltung verloren. Gleichzeitig hat man im Kalten Krieg mit irrwitzigen Zeitverkürzungen bei Reaktions- und Vorwarnzeiten zu operieren gelernt. Dass dieses Spiel übrigens gut ausgegangen ist, kann man heute noch kaum glauben.


Lethen: Es gibt also viele Spiel-Arten. Unterlegt ist aber jeder Spieltheorie eine gewisse Rationalität des Handelns, ein Streben nach Vorteil. Eine Selbstvernichtung wäre nicht im Nutzen des Angreifenden. Aber wenn ich heute an Boko Haram oder Warlords denke, hat da die Spieltheorie nicht schon längst ihre Erklärungskraft verloren? Bei Huizinga lese ich den Satz: "Die Logik wird nur zusammengehalten durch etwas, was außerhalb der Vernunft liegt. Für die Betätigung des spekulierenden Geistes ist immer ein Spielfeld abgesteckt. Was sich nach draußen wagt, steht vor dem Abgrund des Unsinns." Hat er nicht alles schon bedacht, was wir jetzt überlegen?


Die Entgrenzung des Spiels ereignete sich auch bei Bush, wenn das Spielfeld im "Krieg gegen den Terror" unendlich groß ist. Damit werden Spiel und Krieg insofern deckungsgleich, indem es unendlich wird. Und damit hört auch das Spiel auf. Bei Huizinga wird der totale Krieg verhindert, indem er durch Regeln begrenzt wird: "Kämpfen als Kulturtechnik", schreibt er, "setzt jederzeit beschränkende Regeln voraus." Wie im Übrigen bei Clausewitz auch: die politische Kontrolle des Krieges. Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik, wenngleich mit anderen Mitteln, aber er ist Sache der Politik in seinen Zielen, seinen Orten und in seiner Dauer. Der Krieg der Generäle wäre der totale Krieg, vor dem Clausewitz zurückschreckt. Wenn man den Krieg auf diese Weise sich selbst überließe, würde er zum mörderischen Spiel werden.


Macho: Die Generalität in Japan hat nach dem Atombombenabwurf auf Nagasaki gesagt, wir kämpfen weiter, auch wenn die ganze Nation zugrunde geht. Das galt als Ehrensache. Es war der Kaiser, der dann gesagt hat, es geht nicht mehr. Die Militärs haben sich an der alten Samurai-Tradition orientiert, dass notfalls alle untergehen müssen. Die Frage, die dem Verhältnis von Agon und Ares nahesteht, betrifft den Verlust der Agonalität nach dem Ende des Kalten Krieges. Darum könnten wir natürlich nachfragen, welche anderen Dimensionen nach diesem Verlust eine Rolle spielen könnten. Im Sinne der Kategorien von Roger Caillois könnten wir sagen, dass Elemente von Zufall - Alea - eine größere Rolle spielen, aber auch Ilinx, der Rausch: alle Elemente, die mit dem Ekstatischen, Rauschhaften, Suchthaften im Krieg zu tun haben. Im Rückblick etwa auf den Zweiten Weltkrieg, in dem die deutsche Wehrmacht Millionen von Pervitintabletten, im Prinzip nichts anderes als Crystal Meth, hergestellt hat, um den Blitzkrieg zu ermöglichen, müssten wir fragen, ob der Rausch in den asymmetrischen Kriegen der Gegenwart eine ganz neue Funktion erhalten hat. Daraus ergibt sich die Frage, ob das Heilige oder der heilige Ernst, von dem wir vorhin gesprochen haben, nur mit Agon assoziiert werden kann, und nicht ebenso gut auch mit Alea oder Ilinx …


Lethen: … und der Mimikry, dem Theater. Manches, was durchgeführt wurde, hat den Anschein, dass es nur durchgeführt wurde, um medial inszeniert zu werden. Mancher Angriff, so hat man den Eindruck, ist vorher mit Medien abgesprochen worden.


Macho: In den großartigen Dokumentarfilmen von Joshua Oppenheimer, die er etwa in Indonesien gedreht hat, sieht man Formen des Kriegsspiels, des Reenactments, die reine Mimikry sind, wo die Tötung der Gegner in begeisterter Form als Performance durchgespielt und nachgestellt wird. Wenn wir also unsere Situation beschreiben als Verlust der engen Bindung zwischen Agon und Ares in der Vorstellung von Krieg, dann müssen wir sagen, nicht das Spiel geht verloren, sondern das agonale Element des Spiels geht verloren und taucht in anderen Gestalten des Spiels wieder auf: in der Gestalt des Zufalls (Alea), in der Gestalt des Theatralen (Mimikry) und in der Gestalt des Rausches (Ilinx) und der heiligen Ekstase. Ein Detail im Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris wurde nicht mehr genauer kommentiert: der Augenzeugenbericht von einem zitternden, schweißüberströmten Mann beim Stadion, der sich suizidiert hat, ohne jemand anderen in den Tod mitzureißen, in einer Art verzweifeltem und ausweglosem Todesrausch.


Lethen: Zurückkommend auf die Umfriedung: Das Kriegstagebuch scheint ein umhegter Raum zu sein. Zum Beispiel Ernst Jüngers Tagebücher, in denen er das Blickfeld in kleine Parzellen aufteilt. Sein Tagebuch rahmt das Chaos der Schlacht im Format der kleinen Papierseiten des Notizbuchs, auf die er Minidramen von Ereignissen einträgt. Bringe die unfassbaren Ereignisse auf das Format von 11 auf 17 oder von 8,5 auf 14,5 Zentimeter, und du wirst ihrer Herr. Im Schreiben schaffst du dir eine Umfriedung. Du schaffst dir dein Spielbrett, in das du Koordinaten einträgst. Das scheint zu helfen. Das bringt uns zu der Frage, welche Rolle die Literatur spielt. Huizinga hat eine merkwürdige Theorie, wenn ich mich recht erinnere.


Macho: Für Huizinga liegt der Ursprung der Dichtung im Agonalen, im Wettkampf. Er widmet Kunst und Literatur eigene Kapitel, als wollte er alle Spielformen systematisch einhegen und voneinander abgrenzen, wobei die Überschneidungen und Übergänge etwas weniger genau wahrgenommen werden. In Kampfspielen wie im Fußball scheint das Agonale in domestizierter Form zu überleben. Aber es ist erstaunlicherweise ein Agonales, das nicht mehr projizierbar ist auf die Geschlechterdifferenz, weil es längst den Frauenfußball gibt, und vielleicht wird es sogar einmal gemischte Teams geben wie im Tennis. Auch der Rassismus kann nicht mehr als agonale Projektionsfläche genutzt werden, weil bei den berühmten Vereinen oft Spieler aus zehn Nationen in einer Mannschaft spielen …


Lethen: … und sogar Politiker über die Popularität von Spielern wie David Alaba stürzen können. Der andere Aspekt ist Freundschaft. Freundschaft ist ein kompliziertes Ausbalancieren von Fremdheit. Das Agonale ist die Kunst, die Balance zu stören, in eine Schieflage zu bringen, diese Kunst geht verloren. Im Ersten Weltkrieg haben die feindlichen englischen und deutschen Soldaten in der Weihnachtszeit für einige Stunden Fußball zusammen gespielt. Das wurde schnell verboten. Der Krieg ist immer die Zerstörung der Balance. Das klassisch Agonale ist das bewusste, zeitlich und räumlich begrenzte Destabilisieren von Freundschaft, um sie nach dem Spiel wieder ausbalancieren zu können.


Der Drohnenkrieg als Form des virtuellen Krieges scheint ein Krieg ohne Selbstgefährdung. Der "Spieler", der am Joystick die Drohne fliegt, geht um 17 Uhr nach Hause. Geht das?


Lethen: Ja, aber er landet dann, hörte ich, beim Psychiater.


Macho: Soldaten in solchen Einsätzen beschreiben ihre posttraumatischen Störungen genau so, wie wenn sie gerade im realen Kriegseinsatz gewesen wären, und sie haben gerade erst in einem offenen Brief an den US-Präsidenten heftig gegen die Drohneneinsätze protestiert: Ihre Flashbacks seien die gleichen wie bei echten Einsätzen vor Ort. Das ist interessant, weil sie offenbar ganz gut unterscheiden können zwischen Virtualität und Realität, und wenn dann die typischen Kollateralfehler passieren, die in dieser Kriegsform geradezu angelegt sind, wenn etwa versehentlich ein Krankenhaus des Roten Kreuzes beschossen wird, scheint es sogar doppelt so schlimm.




Beschreibung

Vom Zinnsoldat zu Call of Duty





Kriegsspiele sind Echo wie Lautsprecher von Kriegsbegeisterung und -hetze, sie erzählen ein dunkles, bislang kaum bekanntes Kapitel der materiellen Kultur: Ritterburgen und Belagerungsspiele, Holzschwerter und Gewehrattrappen bedienten seit Jahrhunderten puerile Phantasien, ebenso die unzähligen Jeux de la Guerre, Games of Bombardement und frühen Kriegssimulationen, die in der Offizierausbildung zum Einsatz kamen. Ähnlich wie Literatur, Plakat und Film doch auf sehr spezielle Weise dienten auch Spiele politischer Propaganda: Je näher der Krieg rückte, desto mehr wurde in den Kinderzimmern aufgerüstet, das Publikum auf Vaterlandstreue eingeschworen. In diesem Band widmen sich international bekannte Spieleforscher dem Verhältnis von Kriegspropaganda und Spiel. Sie analysieren militärische Gesellschaftsspiele von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart und machen – in einem umfangreichen Bildteil - seltene Spiele und ihre Regeln erstmals zugänglich. Angesichts zunehmender Virtualisierung und Gamifizierung von Krieg erscheint das Thema heute aktueller denn je.


Mit Beiträgen von Franz Ablinger, Philipp Bojahr, Gejus van Diggele, Mathias Fuchs, Stephan Günzel, Manfred J. Holler, Margarete Jahrmann, Larisa Koèubej, Helmut Lethen, Thomas Macho, Lydia Mischkulnig, Rolf F. Nohr, Ulrich Schädler, Liddy Scheffknecht, Adrian Seville, Ernst Strouhal und David Tartakover.


Zitat aus einer Besprechung
»Agon und Ares verfolgt die Verunheimlichung des konstitutiven Freiheitsmoments im Spiel. Neben Ausflügen in die japanische oder sowjetische Kriegsspielhistorie rekonstruiert der Band die Professionalisierung der Planspiele der Deutschen Wehrmacht, widmet sich den von der Populärkultur begeistert ind Bild gesetzten War-Games im Kalten Krieg und würdigt das postheroische Antikriegs-Shooter-Game Spec Ops.«, Der Standard, 09.07.2017

»›Agon und Ares‹ liest sich als abwechslungsreich gestaltetes und lehrreiches Sachbuch, das sich nicht davor scheut, auch höchst ambivalente Seiten der Spielkultur zu zeigen und zu analysieren.«, FM4, 23.02.2017

»Wie reich dieser Kontext und wie breit das Spektrum der Kriegsspiele ist, das führen die Beiträge des Bandes vor Augen, die ihre Gegenstände sowohl mit zeit- als auch mit spielhistorischen Interessen behandeln. […] Der Band ist exzellent ausgestattet, nämlich großzügig farbig bebildert, samt zwei separaten kommentierten BIldergalerien zu Spielen im Ersten und Zweiten Weltkrieg.« Helmut Mayer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.2017

»Äußerst anregendes Buch.« Alf Mayer, Culturmag, 15.02.2017

Über Ernst Strouhal

Ernst Strouhal, ist außerordentlicher Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien. Er ist Autor, Publizist und Kurator von Ausstellungen. 2010 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Zuletzt erschien von ihm »Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten« (2015).