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Ethik der Psyche

Ethik der Psyche

Normative Fragen im Umgang mit psychischer Abweichung

Ethik der Psyche
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Veröffentlicht 2015, von Günter Feuerstein, Thomas Schramme bei Campus

ISBN: 978-3-593-50190-1
Auflage: 1. Auflage
519 Seiten
~10 Tabellen in s/w und 1 Abb. in s/w
21.4 cm x 14 cm

 
Nach wie vor sind wir weit entfernt davon, psychische Phänomene wirklich zu verstehen. Vielfach gerät bei der Behandlung der Patient als »ganzer Mensch« aus dem Blickfeld, und psychische Störungen werden auf hirnphysiologische Phänomene reduziert. In einer kritischen Zusammenschau verbinden die Beiträger des Bands erstmals theoretische, historische, klinische und ethische Fragen, die sich ...
Textauszug
Einleitung



Günter Feuerstein und Thomas Schramme



Verfügt die medizinische Ethik über die theoretischen Instrumente, ange-messen auf die praktischen Probleme der Psychiatrie zu reagieren? Oder erfordern die spezifischen Besonderheiten, welche die theoretische Kon-zeptualisierung des Psychischen und der Umgang mit psychischen Abwei-chungen mit sich bringen, eine genuine Ethik der Psyche? Dies ist eine der zentralen Fragen, die dem vorliegenden Band zugrunde liegen und ebenfalls den Fokus der Jahrestagung der Akademie für Ethik in der Medizin bildeten, die 2012 in Hamburg stattfand und deren Ergebnisse hier dokumentiert werden.

Die psychiatrische Ethik ist im Vergleich zur medizinischen Ethik weit weniger entwickelt. Häufig werden ihre Fragen auf solche der Zwangsbe-handlung und verwandter Gebiete wie die der Selbstbestimmungsfähigkeit reduziert. Das ist zum einen eine thematische Engführung; zum anderen ist fraglich, ob die ethischen Richtlinien, wie sie im Umgang mit nicht ein-willigungsfähigen Patienten entwickelt wurden, für psychiatrische Patienten passen, da diese üblicherweise nicht grundsätzlich einwilligungsunfähig sind, doch gleichwohl bisweilen Defizite in der Entscheidungsfindung aufweisen, die mit den üblichen Kategorien nicht gefasst werden können. Hinzu kommt, dass schon die Art und Weise, wie wir über die Psyche des Menschen reden, normative Vorannahmen reflektieren und Konsequenzen zeitigen kann. Bevor man also die speziell auf die psychiatrische Praxis fokussierende Ethik diskutiert, benötigt man eine ethische Perspektive auf die konzeptuellen und theoretischen Auffassungen bezüglich der menschlichen Geistestätigkeit. Darüber herrscht alles andere als Einigkeit und es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Betrachtungsperspektiven und Deutungen, die zudem in ständigem Wandel begriffen sind. Verstehen wir die Psyche als Ensemble von Hirnfunktionen? Benötigen Patienten zur Einwilligungsfähigkeit in erster Linie kognitive Fähigkeiten? Was unterscheidet überhaupt Emotion und Kognition? Antworten auf diese Fragen präfigurieren das normative Feld und ethische Entscheidungen.

Es gilt also, die ethischen Fragen der Psychiatrie nicht nur auf solche eingespielten Gebiete wie die Achtung der Autonomie und die Frage der Beförderung des Wohls zu beschränken, sondern die normative Signifi-kanz von Aspekten der Psychiatrie zu erkennen, die sich so in der allge-meinen Medizin nicht präsentieren. So stellt etwa erstens das erkenntnis-theoretische Problem des mangelnden Zugangs zum Geist eine grundle-gende Schwierigkeit der wissenschaftlichen Erforschung von psychiatri-schen Störungen dar, die immer wieder zu fundamentalen Angriffen auf die Psychiatrie und letztlich zu einer Flucht in die sogenannte biologische Psychiatrie geführt haben - wobei, nebenbei bemerkt, diese Bezeichnung die biologische Perspektive mit der Neurowissenschaft identifiziert, was selbst wissenschaftstheoretisch unpassend ist.

Ein zweites Problem der Psychiatrie besteht im fehlenden Ort der Krankheit, ein letztlich ontologisches Problem. Wie man zuletzt wieder im Zusammenhang der Diskussion über das neue Diagnosemanual der American Psychiatric Association, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), sehen konnte, scheint die Psychiatrie sehr viel mehr als die Allgemeinmedizin mit diesem Problem behaftet und daher geneigt, gesellschaftliche Urteile in die Diagnose einzuschleusen. Die Frage, was medizinisch normal ist, scheint weniger von Werturteilen gesteuert, als was psychiatrisch normal ist. Ob diese Sichtweise berechtigt ist, erfordert eine theoretische Herangehensweise an den Begriff der psychischen Störung, die selbst mit Fragen der Normativität konfrontiert ist, etwa was es heißt, nosologische Einheiten wie "Schizophrenie" oder "Asperger Syndrom" zu schaffen.

Drittens sollte noch einmal die bereits angedeutete Schwierigkeit der mangelnden Interaktionsfähigkeit einiger psychiatrischer Patienten hervor-gehoben werden. Anders als bei grundsätzlich selbstbestimmungsfähigen Patienten, wie sie in der Medizin üblicherweise vorkommen, die nur in Ausnahmefällen und dann meist deutlich nicht über die notwendigen Fä-higkeiten verfügen, sind psychiatrische Patienten häufig nur graduell und auf sehr komplexe Weise in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit beeinträch-tigt. Hier muss eine einfache schwarz-weiße Zuordnung von Entschei-dungskompetenz und -inkompetenz notwendigerweise fehlgehen. Auch die Arten der möglichen Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit erweitern sich hier, denn oftmals liegen die Defizite nicht in denselben Bereichen wie bei anderen Patienten.

Die genannten theoretischen Probleme der Psychiatrie, der mangelnde Zugang zum Geist, der mangelnde Ort der Krankheit und die mangelnde Interaktionsfähigkeit einiger Patienten, führen zu einer deutlichen Anfälligkeit der Psychiatrie für reduktionistische Sichtweisen. Die Biologisierung der Psyche wurde bereits erwähnt, die zweite Reduktion besteht in einem immer noch recht verbreiteten Vernachlässigen der Patientenperspektive. In der Medizin ist es inzwischen durchaus verbreitet, die Bewertung der Patienten wesentlich in die ethische Beurteilung, was zu tun sei, aufzunehmen. Das Vorliegen einer psychischen Störung scheint viel deutlicher schon ein negatives Werturteil und ein Gebot aufzudrängen, psychiatrisch zu intervenieren. Doch zu behaupten, die Beschränkung psychischer Fähigkeiten sei wesentlich gravierender als diejenige somatischer Fähigkeiten, erfordert selbst eine Theorie des menschlichen Wohls, die eigens begründet werden müsste. Kurzum: Die ethischen Probleme der Psychiatrie beginnen nicht erst mit der Praxis, sondern bereits mit der Theorie. Da die Theorie der Psychiatrie aber andere und mitunter komplexere Probleme als die der allgemeinen Medizin aufwirft, scheint es legitim, die Frage nach einer genuinen Ethik der Psyche zu stellen.

Der erste Teil dieses Buchs diskutiert daher zunächst die grundlegende theoretische Verortung der Psychiatrie im Feld der Medizin und die besonderen normativen Herausforderungen der Konzeptualisierung der menschlichen Psyche. Der zweite Teil befasst sich - gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis - mit den theoretischen Voraussetzungen und praktischen Konsequenzen der Normierung des menschlichen Geistes. Der dritte Teil thematisiert konkrete Fragen der psychiatrischen Praxis, wobei der Fokus sich weitet und eine große Bandbreite an ethischen Fragen abgedeckt wird. Im vierten Teil werden Angebote von ethischer Hilfestellung und Expertise vorgestellt, wie sie in verschiedenen Institutionen bereitgestellt werden. Ein zentrales Gebiet der psychiatrischen Ethik ist, wie bereits erwähnt, die Frage der Selbstbestimmung beziehungsweise Autonomie von psychiatrischen Patienten. Der fünfte Anschnitt dieses Buchs widmet sich daher diesem Bereich. Im letzten Teil werden spezifische Fragen der forensischen Psychiatrie thematisiert, also eines Bereichs der psychiatrischen Praxis, der wie kaum ein anderer ihre Doppelrolle zwischen dem klassischen Auftrag der Medizin, leidenden Personen zu helfen, und dem gesellschaftlichen Auftrag, verhaltensauffällige Personen zu "normalisieren", darstellt.
Es wäre vermessen, die einzelnen Beiträge dieses Buchs auf eine ge-meinsame Perspektive zu verengen. Schließlich liegt ein Anliegen des Bandes gerade in der Dokumentation der reichhaltigen Themen einer Ethik der Psyche, die nicht nur im medizinischen Sinne auf das Fehlfunktionieren des Geistes fokussiert, also auf das angestammte Gebiet der Psychiatrie. Gleichwohl liegt wohl ein geteiltes Motiv der Beiträge dieses Bandes darin, die Notwendigkeit hervorzubringen, genuin interdisziplinäre Methoden der ethischen Analyse zu gewinnen. Es wurde bereits betont, dass die normativen Fragen mit einigen theoretischen Problemen behaftet sind, die wiederum insbesondere geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Herangehensweisen erfordern. Von einer solchen gemeinsamen Perspektive sind die Beiträge des vorliegenden Buchs noch recht weit entfernt. Die Publikation mag aber als erster Schritt in diese Richtung verstanden werden.



Beschreibung
Nach wie vor sind wir weit entfernt davon, psychische Phänomene wirklich zu verstehen. Vielfach gerät bei der Behandlung der Patient als »ganzer Mensch« aus dem Blickfeld, und psychische Störungen werden auf hirnphysiologische Phänomene reduziert. In einer kritischen Zusammenschau verbinden die Beiträger des Bands erstmals theoretische, historische, klinische und ethische Fragen, die sich in der Psychiatrie und der Psychotherapie stellen. Hinterfragt werden die normativen Vorannahmen im Umgang mit psychischen Abweichungen mit dem Ziel, eine »Ethik der Psyche« zu entwickeln, die der Besonderheit der geistigen Erlebnisse der Betroffenen gerecht wird.

Über Günter Feuerstein, Thomas Schramme

Günter Feuerstein ist Privatdozent am FSP BIOGUM an der Universität Hamburg. Thomas Schramme ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg.