Volltextsuche nutzen

B O O K SCREENER

Aktuelle Veranstaltungen

Events
  • versandkostenfrei ab € 30,–
  • 6x in Wien und Salzburg
  • 6 Mio. Bücher
Menü
Soziologie als Handwerk

Soziologie als Handwerk

Eine Gebrauchsanleitung

Soziologie als Handwerk
Taschenbuch 36,00
weitere Formateab 31,99
Taschenbuch
36,00
inkl. gesetzl. MwSt.
Besorgungstitel
Lieferzeit 1-2 Wochen
Versandkostenfreibestellen in Österreich
Deutschland: € 10,00
EU & Schweiz: € 20,00
In den Warenkorb
Click & Collect
Artikel online bestellen und in der Filiale abholen.
Artikel in den Warenkorb legen, zur Kassa gehen und Wunschfiliale auswählen. Lieferung abholen und bequem vor Ort bezahlen.
Derzeit in keiner facultas Filiale lagernd. Jetzt online bestellen!
Auf die Merkliste

Veröffentlicht 2019, von Gerhard Schulze bei Campus

ISBN: 978-3-593-51025-5
Auflage: 1. Auflage
381 Seiten
22.8 cm x 15.3 cm

 
Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses ...
Textauszug
Einleitung
Worum es in diesem Buch geht
Was zwischen uns Menschen abläuft, ist einerseits unser eigenes Werk, andererseits verselbständigt es sich und wird zu einer Macht, die tief in unser Leben eingreift. Meist finden wir uns in Routinen verstrickt, als würden wir einem immer wieder durchgespielten gemeinsamen Drehbuch folgen, ohne uns dessen ständig bewusst zu sein. Im Normalfall bewegen wir uns sozusagen per Autopilot durch den Alltag, gesteuert durch intuitiv gespürte Regeln, die durch Ausnahmen und Improvisationen nur bestätigt werden.
Diesem Bauchgefühl will die Soziologie fundierte Beschreibungen und Erklärungen entgegensetzen. Sie will explizit machen, was sonst weitgehend implizit und unerkannt bleibt. Sie will gesellschaftliche Phänomene aus wissenschaftlicher Distanz beobachten und deuten. Und sie will darüber mit den Menschen ins Gespräch kommen. Warum? Nur wenn man halbwegs über die Spiele Bescheid weiß, in die man verwickelt ist, kann man sie mitbestimmen, statt von ihnen beherrscht zu werden.
Braucht man dazu die Soziologie? In den anschwellenden Diskursen über Gesellschaftliches – etwa in Talkshows, Blogs, Shitstorms, Parlamentsdebatten, politischen Kommentaren und Alltagsgesprächen – dominiert der Brustton der Überzeugung. Dass sich hinter solcher vermeintlicher Sicherheit oft blanke Ungewissheit verbirgt, tritt zwar in der Gegensätzlichkeit der Meinungen deutlich zutage, gerade dies lässt viele aber umso entschiedener an die Wahrheit des eigenen Standpunkts glauben.
Mehr und mehr drehen sich öffentliche Diskurse um genuin soziologische Themen, allerdings meist unter Abwesenheit der Soziologie. Einerseits drängt die weit vorangeschrittene Moderne den Menschen weltweit die soziologische Perspektive förmlich auf. Andererseits führen die darauf antwortenden Deutungsanstrengungen oft zu mehr Verwirrung als Klarheit.
Doch der kollektive Selbstreflexionsbedarf wird im Lauf des 21. Jahrhunderts weiter steigen. Ludger Pries nennt eine ganze Reihe neuer Themen, auf die er die Soziologie »nur halbwegs vorbereitet« sieht, unter anderem: Gen-Schere, Künstliche Intelligenz, neuronale Netze, Grenzauflösung im Verhältnis von Mensch, Natur und Artefakten, Re-Nationalisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten und Identitäten, Sozialbeziehungen zwischen Digitalisierung und neuer Erdung in der analogen Welt, zwischen Verdinglichung und Versinnlichung.1 Soweit ein Ausschnitt aus dem Panorama des Jahres 2018 – Fortsetzung folgt.
Unter diesen Umständen wäre es nur konsequent, würde sich der kollektive Selbstreflexionsbedarf schließlich auch auf sich selbst richten: Warum ändert sich nichts an unserer babylonischen Situation fruchtloser Deutungskonkurrenz, die immer wieder auch in der Soziologie selbst aufbricht, zuletzt im Jahr 2017 mit der Gründung der »Akademie für Soziologie«? In dieser Frage könnte der Keim einer geistigen Entwicklung liegen, die mit zwei Aufgaben beginnt: erstens mit einer klaren Ortsbestimmung der Soziologie als empirischer Wissenschaft, zweitens mit der Integration ihrer grundlegenden Denkformen in den Kanon der Allgemeinbildung.
(1) Ortsbestimmung der Soziologie als empirische Wissenschaft: Wenn diese Aufgabe liegen bleibt, droht die Chance verspielt zu werden, die in der Soziologie steckt. Paradoxerweise ist dies genau dann zu befürchten, wenn Soziologie so zu werden versucht wie andere etablierte Wissenschaften auch, etwa Physik, Chemie oder Biologie. Doch als verstehende Wissenschaft muss die Soziologie Mut zur Unschärfe, zur Interpretation und zur Ungewissheit aufbringen, sonst erreicht sie ihren Forschungsgegenstand nicht. Dies ist jedoch keineswegs als Einladung zur Willkür gemeint. Wissenschaftlichkeit entsteht durch Intersubjektivität, das heißt durch nachvollziehbareres, an gemeinsamen Regeln ausgerichtetes Argumentieren, worauf es gerade dann besonders ankommt, wenn die höchste Stufe von Objektivität (im Sinn völliger Ent-Subjektivierung) nicht erreichbar ist, sondern »nur« Plausibilität und vorläufiger Konsens.
Den Initiatoren der »Akademie für Soziologie« kommt das Verdienst zu, die Debatte über die Wissenschaftlichkeit der Soziologie neu belebt zu haben. Immerhin geht es dabei um den Kern soziologischer Professionalität, um den eigenen Standort. Seit der letzten großen innersoziologischen Debatte, dem Positivismusstreit in den 60er Jahren, war die Erörterung dieser Grundsatzfrage vom Zentrum an die Peripherie der Soziologie gerückt. Die Wissenschaftlichkeit der Soziologie war kein leidenschaftlich diskutiertes Thema der soziologischen Öffentlichkeit mehr. Nicht in großen Diskursen, sondern in vielen unverbundenen Episoden trat eher implizit zutage, was man für »wissenschaftliche Soziologie« hielt. Die jeweilige persönliche Position äußerte sich als Gefühl von Nähe oder Distanz in der Kollegenschaft, als Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Klassen von Methoden, als Kooperation oder Abgrenzung im Forschungsbetrieb, als Entscheidung für oder gegen bestimmte Inhalte in Studien- und Prüfungsordnungen. In dieser Situation kam die Gründung der »Akademie für Soziologie« im Jahr 2017 zur rechten Zeit. Endlich wurde die Frage der Wissenschaftlichkeit in der Soziologie wieder zu einem die ganze Disziplin erfassenden Kristallisationskern von Auseinandersetzung und Selbstbefragung: Wo genau stehe ich eigentlich?
Wie wichtig und produktiv dieser Impuls zu grundsätzlicher soziologischer Selbstreflexion war und ist, zeigt sich gerade auch in den kritischen Stellungahmen.2 In der Dialektik der Debatte gewann das scheinbar Selbstverständliche wieder Profil. Der Titel dieses Buchs, Soziologie als Handwerk, zielt explizit auf Professionalität ab. Wie macht man gute Soziologie? Wie kann man sich einerseits auf die zahlreichen Sonderprobleme einlassen, die der Forschungsgegenstand Gesellschaft nun einmal unweigerlich mit sich bringt, und andererseits den Anspruch erheben, Wissenschaft im strengen Sinn zu sein?
Genau darum ging es auch den Gründungsmitgliedern der »Akademie für Soziologie«. Sie fordern eine »empirisch-analytische« Soziologie, deren Programmatik an die Naturwissenschaften erinnert: Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, theorieorientierte Forschung, standarisierte Messung, maximale Objektivität, kumulativer Wissensfortschritt. Meine eigene Position dazu wird an vielen Stellen in diesem Buch deutlich werden: Einerseits gehört diese Forschungslogik durchaus zum Handwerk der Soziologie dazu, andererseits darf sie nicht zum Käfig werden. Der Forschungsgegenstand Gesellschaft in seiner Gesamtheit ist allein damit keinesfalls zu erreichen. Wie aber kann dann Soziologie noch beanspruchen, eine empirische Wissenschaft zu sein? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch meine folgenden Überlegungen.
(2) Soziologische Allgemeinbildung: Dieses Vorhaben klingt zunächst utopisch. Wie aber soll soziologische Aufklärung jemals gelingen, wenn Soziologie und Öffentlichkeit aneinander vorbeireden? Ohne populäres soziologisches Allgemeinwissen wird sich am weitgehenden Fehlen eines Dialogs zwischen Soziologie und Öffentlichkeit nichts ändern.3 Aber ist das nicht normal? Die meisten Wissenschaften sind nur studierten Experten zugänglich. Spezialisierte Vermittler und akademische Berufe übersetzen neue Forschungsergebnisse in die Praxis, und alle sind zufrieden. Sollte sich nicht auch die Soziologie an diesem Modell orientieren? Nein: Hier gilt das genaue Gegenteil. Die Soziologie verfehlt ihren Daseinszweck, wenn sie für sich bleibt, statt den Diskurs mit der Öffentlichkeit zu suchen.
Soziologie ist eine Wissenschaft, die verstehen, aber auch verstanden werden will. Darin gleicht sie der Psychotherapie. Diese ist heute so fest in der Gesellschaft verankert, dass sie zu einem der größten Etatposten im Budget der Krankenkassen wurde. Im Lauf des 20. Jahrhunderts konnte die Psychotherapie den Menschen begreiflich machen, worin ihr Beitrag zum Gelingen des Lebens besteht: in mehr Klarheit über sich selbst. Der Fokus der Psychotherapie liegt auf dem Innenleben, derjenige der Soziologie auf dem Zusammenleben. Der Soziologie ist es jedoch bis heute nicht gelungen, ihr Potenzial den Menschen nahezubringen. Man weiß zwar, dass es die Soziologie gibt, was sie aber konkret will und nützt, wird auch innerhalb der Disziplin kaum einmal auf den Punkt gebracht.
Dieses Buch soll Soziologie als ein Handwerk vermitteln, das auf mehr Klarheit und Explizitheit abzielt. Klarheit im Zusammenleben kann sich im Blick auf weithin geleugnete Konflikte zeigen. Sie kann im Bezweifeln dessen zutage treten, was so gut wie alle für unumstößlich wahr halten. Sie kann auch die sokratische Form des Eingeständnisses von Ungewissheit und Unschärfe annehmen, wo Sicherheit und Exaktheit auf Selbsttäuschung hinauslaufen würden. Soziologie ist ein unbequemes Projekt.
Aber kann man sich auf soziologische Erkenntnisse verlassen? Ein Arzt, der sich seiner Diagnose nicht sicher war, verblüffte mich einmal mit einem Vergleich: »Wenn das potenzielle medizinische Wissen das Universum darstellt, dann sind wir gerade erst beim Mond angekommen.« So alltäglich Ungewissheit ist, so rar bleibt ihr Eingeständnis, nicht nur in der Medizin. Welche Therapie ist die richtige? Was wäre gegenwärtig die beste Geldanlage? Wie soll es mit Europa weitergehen? Was macht einen guten Unterricht, eine gute Schule, ein gutes Bildungssystem aus?
Andererseits sind wir immerhin »bis zum Mond« gekommen – in der Medizin. Wie aber steht es im Vergleich dazu in der Soziologie? Hat sie, ihrem Image einer »weichen«, ihrer selbst unsicheren Wissenschaft entsprechend, vielleicht noch nicht einmal die Wolkendecke durchstoßen? Dann wundert es umso weniger, dass sich in den allgegenwärtigen Streitgesprächen über die Gesellschaft, in der wir leben, so viel Rechthaberei und illusionäre Gewissheit findet.
Vielleicht gäbe es mehr Konsens, und dies auf besserer Grundlage, wenn es der Soziologie gelänge, zu einer Instanz zu werden, die gefragt, gehört und verstanden wird. Mit diesem Buch versuche ich, dazu einen Beitrag zu leisten. Die neun Hauptteile mit jeweils zwei bis drei Kapiteln schreiten einen Themenhorizont ab, dem man üblicherweise nur in getrennten Publikationen und Lehrveranstaltungen begegnet. In diesem Buch dagegen kommt es auf die Zusammenschau aller Anforderungen des Denk-Handwerks der Soziologie an. Um eine Gebrauchsanleitung, wie der Untertitel besagt, handelt es sich insofern, als es vor allem um die operative Umsetzung der Leitideen der Soziologie geht. Diese scheinen nach mehr als 150 Jahren Geschichte der Soziologie als akademischer Disziplin4 weitgehend ausbuchstabiert – wie aber »macht« man Soziologie?
Welche Teilfragen ich hier aus dieser Hauptfrage ableite und bearbeite, zeigt der folgende Überblick über die neun Hauptteile dieses Buchs:
I. Das Projekt Soziologie: Womit beschäftigt sich die Soziologie?
II. Wissenschaft: Was macht Wissenschaftlichkeit aus und wie kann die Soziologie Wissenschaft sein?
III. Wirklichkeitszugang: Wie informiert sich die Soziologie über ihren Forschungsgegenstand?
IV. Sprache: Aus welchen Bausteinen bestehen soziologische Texte?
V. Argumentieren: Was sind gute Begründungen?
VI. Heuristik: Wie generiert die Soziologie neues Wissen?
VII. Wissensdynamik: Welche Formen nimmt Wissensfortschritt in der Soziologie an?
VIII. Subversion: Welchen unterschwelligen Gefährdungen ist die Soziologie ausgesetzt?
IX. Herausforderungen: Welche Aufgaben stellen sich der Soziologie heute?
Weil der Begriff der Erkenntnis in diesem Buch hervorgehobene Bedeutung hat, will ich gleich zu Beginn klarstellen, wie ich ihn im Kontext der Soziologie nicht meine: Er soll nicht etwa das Offenbarwerden einer absoluten und unbestreitbaren Wahrheit bedeuten. ...

Beschreibung
Es ist ein Spagat: Die Soziologie soll ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, gerecht werden, und zugleich Wissenschaft im strengen Sinne sein. Doch welchen Platz nimmt die Soziologie in der Gesellschaft ein? Und wie kann sie in der Praxis umgesetzt werden? Mit Gerhard Schulze widmet sich einer der renommiertesten Vertreter des Faches den grundlegenden Fragen der Soziologie und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft. Denn Soziologie, so seine These, ist überall. Schulze führt in den Forschungsgegenstand ein, zeigt, was die Soziologie als Wissenschaft auszeichnet und wie sie sich von den Naturwissenschaften unterscheidet. Wie entstehen Erfahrungen und wie werden sie von Soziologen erhoben und interpretiert? Das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Soziologie öffentlich besser zur Geltung bringen kann.

Über Gerhard Schulze

Gerhard Schulze ist emeritierter Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Im Campus Verlag erschienen von ihm unter anderem "Die Erlebnisgesellschaft" (1993) und "Kulissen des Glücks" (1999).