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Aufbruch der entsicherten Gesellschaft
Deutschland nach der Wiedervereinigung
Hardcover
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Veröffentlicht 2012, von Heinrich Best, Everhard Holtmann bei Campus
ISBN: 978-3-593-39774-0
Auflage: 1. Auflage
491 Seiten
ca. 50 Grafiken und Tabellen
22.8 cm x 15.2 cm
20 Jahre nach der deutschen Einigung handeln die Menschen in Ostdeutschland immer noch unter dem Einfluss der Ost-West-Differenz und anhaltender Unsicherheit. Das Buch zeichnet die Entwicklungslinien des Einigungsprozesses sowie den internationalen Kontext seit 1989/90 bis heute nach. Es bündelt die Erträge des Forschungsverbunds »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch«
der ...
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Textauszug
In Zeiten wie diesen wird, wie es der Soziologe Hans Braun exemplarisch für die 1950er Jahre der alten Bundesrepublik formuliert hat, das generelle Bedürfnis, Sicherheit herzustellen, zu einer beherrschenden gesellschaftlichen Zielvorstellung (Braun 1978: 280). Es gehe darum, so Braun, jene "Unsicherheitsfelder" einzudämmen, die aus der Dynamik eines beschleunigten sozialen Wandels hervorgehen. Hierfür sind individuelle Handlungsanleitungen und kollektive Strategien gleichermaßen vonnöten (ebd.: 279). Ganz ähnlich hatte Jahrzehnte zuvor, mit Blick auf das anlaufende Demokratieprojekt im nachnationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1945, Brauns US-amerikanischer Kollege Talcott Parsons die psychologischen Voraussetzungen für einen kontrolliert verlaufenden Wandel der Gesellschaft (Controlled Institutional Change) beschrieben. Um eine grundlegende Modernisierung von Politik und Gesellschaft durchzusetzen, müssen, so Parsons, alte Verhaltensmuster gegen neue ausgetauscht werden. Indes tendierten die eingeschliffenen Institutional Patterns der alten Zeit zur Selbsterhaltung, wobei ihnen das Beharrungsvermögen alter Netzwerke (Vested Interests) zugute käme. Um deren blockierende Wirkkräfte zu neutralisieren, müsse man sie - sei es mit Anreizen, sei es durch Ausüben von Druck - zu "Redifinitionen" sozialer Strukturbildungen und Handlungsmuster bewegen. Zum anderen sei es angezeigt, Bündnisse zu schmieden mit den Pionieren der gesellschaftlichen Modernisierung, die in Zeiten des Wandels ebenfalls bereit stünden und ihre Chance suchten: "There are ›allies‹ within the social system itself which can be enlisted on the side of change in any given direction" (Parsons 1993 [1945]: 397ff.).
Diese Konstellation, die Parsons idealiter beschrieb, wird in den Abläufen der beiden jüngeren deutschen Systemwechsel zur Demokratie, demjenigen von 1945/49 in Westdeutschland und jenem von 1989/90 in Ostdeutschland, gut erkennbar. Allerdings jeweils mit zeittypischen Ausprägungen: Während im westlichen Nachkriegsdeutschland einerseits nationalsozialistisch belastete Angehörige der neuen Positions- und Werteliten vielfach unbehelligt weiter in Amt und Würden blieben, andererseits aber in der Gesellschaft früh ein formales Einverständnis mit der Demokratie entstand, das Eliten und Bevölkerung vereinte und in den 1970er Jahren sich in der Richtung wachsender politischer Partizipation materiell erweiterte (Almond/Verba 1963; Gabriel 1987), waren umgekehrt in Ostdeutschland nach 1990 die neuen Führungsschichten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft nicht vergleichbar korporativ politisch vorbelastet und fanden auch bemerkenswert schnell zu einer professionell konvergenten Grundhaltung. Andererseits hat sich in den neuen Bundesländern hinsichtlich der Bewertung zentraler politischer und gesellschaftlicher Fragen seit der Einigung die Kluft zwischen "unten" und "oben" teilweise verbreitert (Aderhold u.a. 2010a). Auch stagniert das bürgerschaftliche und politische Engagement auf niedrigerem Niveau oder entwickelt sich inzwischen sogar rückläufig (vgl. Bundesministerium 2010).
Der diachrone Vergleich macht zudem deutlich, wie unterschiedlich beide deutschen Transformationsgesellschaften mit der elementaren Herausforderung, Unsicherheit in neuerliche Sicherheit zu verwandeln, umgegangen sind. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wurde, nachdem die der Währungsreform von 1948 folgende Stabilisierungskrise abgeflaut war, ein Lebensgefühl sozial konstitutiv, das, wie Helmut Schelsky beobachtete, "in einer unwahrscheinlichen Arbeitsenergie [und] in einem breiten Aufstiegs- oder Wiederaufstiegsstreben" zum Ausdruck kam (Schelsky 1965 [1955]: 407; vgl. Schelsky 1965 [1953]; neuestens Holtmann 2012c). Der eineinhalb Jahrzehnte anhaltende wirtschaftliche Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre entlohnte diese individuelle Anstrengung mit materiellen Gratifikationen, die das Gros der Gesellschaft absicherte (siehe die Daten zur Steigerung von Sozialprodukt und Einkommen bei Lepsius 1974: 272). Dieser Prozess eines allgemeinen sozialen Aufstiegs wurde von Schelsky damals als "Entschichtungsvorgang", nämlich als Tendenz hin zu einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" beschrieben. Die neue "›mittelständische‹ Lebensform" erfüllte sich demzufolge darin, dass "fast jedermann seinen Fähigkeiten angemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr ganz ›unten‹ zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können" (Schelsky 1965 [1953]: 332f.).
In Ostdeutschland entwickelte sich nach 1990 die Empfindungslage der Gesellschaft komplizierter. Einesteils kam im Zuge des Aufbrechens erstarrter alter Strukturen auch hier ein bemerkenswertes Potential an bis dahin versteckter Individualität zum Vorschein, das sich etwa bei der Neu- bzw. Ausgründung kleiner und mittlerer Betriebe bewährte. Anders aber als in der Phase der damaligen Rekonstruktion Westdeutschlands wurde in Ostdeutschland das Erleben, dass "die Existenz des einzelnen sich auf einem im Vergleich zur Ausgangslage deutlich höheren Niveau konsolidiert" und deshalb "die Lebensumstände als stärker gesichert erscheinen" (Braun 1978: 293), nicht zu einer als alternativlos wahrgenommenen Allgemeinerfahrung. Denn anders als im westlichen Nachkriegsdeutschland war die Ausgangslage 1989/90 nicht durch eine generalisierte Mangellage und infrastrukturelle Lähmung gekennzeichnet. Dies hatte zur Folge, dass Prozesse sozialen Abstiegs in Ostdeutschland nach 1990 subjektiv als vergleichsweise einschneidender empfunden wurden. Auch werden Zuwächse an "Zivilisationskomfort" (Schwarz 1981: 384), die objektiv beachtlich sind, bis heute in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als defizitär gewertet, weil ein Maßstab von Verteilungsgerechtigkeit angelegt wird, der sich mit wechselnder Blickrichtung entweder an einer zu DDR-Zeiten vorgeblich besser gewährten Grundsicherheit oder, legitimiert durch das Verfassungspostulat gleichwertiger Lebensverhältnisse, ausschließlich am westdeutschen Vergleichsniveau orientiert.
Beschreibung
20 Jahre nach der deutschen Einigung handeln die Menschen in Ostdeutschland immer noch unter dem Einfluss der Ost-West-Differenz und anhaltender Unsicherheit. Das Buch zeichnet die Entwicklungslinien des Einigungsprozesses sowie den internationalen Kontext seit 1989/90 bis heute nach. Es bündelt die Erträge des Forschungsverbunds »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch«
der Universitäten Jena und Halle, der weltweit einzigen Großforschung, die sich über zehn Jahre interdisziplinär und vergleichend entlang der Themen Eliten, Arbeit, Regionalität und Partizipation der Transformationsforschung widmete.
In Zeiten wie diesen wird, wie es der Soziologe Hans Braun exemplarisch für die 1950er Jahre der alten Bundesrepublik formuliert hat, das generelle Bedürfnis, Sicherheit herzustellen, zu einer beherrschenden gesellschaftlichen Zielvorstellung (Braun 1978: 280). Es gehe darum, so Braun, jene "Unsicherheitsfelder" einzudämmen, die aus der Dynamik eines beschleunigten sozialen Wandels hervorgehen. Hierfür sind individuelle Handlungsanleitungen und kollektive Strategien gleichermaßen vonnöten (ebd.: 279). Ganz ähnlich hatte Jahrzehnte zuvor, mit Blick auf das anlaufende Demokratieprojekt im nachnationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1945, Brauns US-amerikanischer Kollege Talcott Parsons die psychologischen Voraussetzungen für einen kontrolliert verlaufenden Wandel der Gesellschaft (Controlled Institutional Change) beschrieben. Um eine grundlegende Modernisierung von Politik und Gesellschaft durchzusetzen, müssen, so Parsons, alte Verhaltensmuster gegen neue ausgetauscht werden. Indes tendierten die eingeschliffenen Institutional Patterns der alten Zeit zur Selbsterhaltung, wobei ihnen das Beharrungsvermögen alter Netzwerke (Vested Interests) zugute käme. Um deren blockierende Wirkkräfte zu neutralisieren, müsse man sie - sei es mit Anreizen, sei es durch Ausüben von Druck - zu "Redifinitionen" sozialer Strukturbildungen und Handlungsmuster bewegen. Zum anderen sei es angezeigt, Bündnisse zu schmieden mit den Pionieren der gesellschaftlichen Modernisierung, die in Zeiten des Wandels ebenfalls bereit stünden und ihre Chance suchten: "There are ›allies‹ within the social system itself which can be enlisted on the side of change in any given direction" (Parsons 1993 [1945]: 397ff.).
Diese Konstellation, die Parsons idealiter beschrieb, wird in den Abläufen der beiden jüngeren deutschen Systemwechsel zur Demokratie, demjenigen von 1945/49 in Westdeutschland und jenem von 1989/90 in Ostdeutschland, gut erkennbar. Allerdings jeweils mit zeittypischen Ausprägungen: Während im westlichen Nachkriegsdeutschland einerseits nationalsozialistisch belastete Angehörige der neuen Positions- und Werteliten vielfach unbehelligt weiter in Amt und Würden blieben, andererseits aber in der Gesellschaft früh ein formales Einverständnis mit der Demokratie entstand, das Eliten und Bevölkerung vereinte und in den 1970er Jahren sich in der Richtung wachsender politischer Partizipation materiell erweiterte (Almond/Verba 1963; Gabriel 1987), waren umgekehrt in Ostdeutschland nach 1990 die neuen Führungsschichten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft nicht vergleichbar korporativ politisch vorbelastet und fanden auch bemerkenswert schnell zu einer professionell konvergenten Grundhaltung. Andererseits hat sich in den neuen Bundesländern hinsichtlich der Bewertung zentraler politischer und gesellschaftlicher Fragen seit der Einigung die Kluft zwischen "unten" und "oben" teilweise verbreitert (Aderhold u.a. 2010a). Auch stagniert das bürgerschaftliche und politische Engagement auf niedrigerem Niveau oder entwickelt sich inzwischen sogar rückläufig (vgl. Bundesministerium 2010).
Der diachrone Vergleich macht zudem deutlich, wie unterschiedlich beide deutschen Transformationsgesellschaften mit der elementaren Herausforderung, Unsicherheit in neuerliche Sicherheit zu verwandeln, umgegangen sind. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wurde, nachdem die der Währungsreform von 1948 folgende Stabilisierungskrise abgeflaut war, ein Lebensgefühl sozial konstitutiv, das, wie Helmut Schelsky beobachtete, "in einer unwahrscheinlichen Arbeitsenergie [und] in einem breiten Aufstiegs- oder Wiederaufstiegsstreben" zum Ausdruck kam (Schelsky 1965 [1955]: 407; vgl. Schelsky 1965 [1953]; neuestens Holtmann 2012c). Der eineinhalb Jahrzehnte anhaltende wirtschaftliche Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre entlohnte diese individuelle Anstrengung mit materiellen Gratifikationen, die das Gros der Gesellschaft absicherte (siehe die Daten zur Steigerung von Sozialprodukt und Einkommen bei Lepsius 1974: 272). Dieser Prozess eines allgemeinen sozialen Aufstiegs wurde von Schelsky damals als "Entschichtungsvorgang", nämlich als Tendenz hin zu einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" beschrieben. Die neue "›mittelständische‹ Lebensform" erfüllte sich demzufolge darin, dass "fast jedermann seinen Fähigkeiten angemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr ganz ›unten‹ zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können" (Schelsky 1965 [1953]: 332f.).
In Ostdeutschland entwickelte sich nach 1990 die Empfindungslage der Gesellschaft komplizierter. Einesteils kam im Zuge des Aufbrechens erstarrter alter Strukturen auch hier ein bemerkenswertes Potential an bis dahin versteckter Individualität zum Vorschein, das sich etwa bei der Neu- bzw. Ausgründung kleiner und mittlerer Betriebe bewährte. Anders aber als in der Phase der damaligen Rekonstruktion Westdeutschlands wurde in Ostdeutschland das Erleben, dass "die Existenz des einzelnen sich auf einem im Vergleich zur Ausgangslage deutlich höheren Niveau konsolidiert" und deshalb "die Lebensumstände als stärker gesichert erscheinen" (Braun 1978: 293), nicht zu einer als alternativlos wahrgenommenen Allgemeinerfahrung. Denn anders als im westlichen Nachkriegsdeutschland war die Ausgangslage 1989/90 nicht durch eine generalisierte Mangellage und infrastrukturelle Lähmung gekennzeichnet. Dies hatte zur Folge, dass Prozesse sozialen Abstiegs in Ostdeutschland nach 1990 subjektiv als vergleichsweise einschneidender empfunden wurden. Auch werden Zuwächse an "Zivilisationskomfort" (Schwarz 1981: 384), die objektiv beachtlich sind, bis heute in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als defizitär gewertet, weil ein Maßstab von Verteilungsgerechtigkeit angelegt wird, der sich mit wechselnder Blickrichtung entweder an einer zu DDR-Zeiten vorgeblich besser gewährten Grundsicherheit oder, legitimiert durch das Verfassungspostulat gleichwertiger Lebensverhältnisse, ausschließlich am westdeutschen Vergleichsniveau orientiert.
Beschreibung
20 Jahre nach der deutschen Einigung handeln die Menschen in Ostdeutschland immer noch unter dem Einfluss der Ost-West-Differenz und anhaltender Unsicherheit. Das Buch zeichnet die Entwicklungslinien des Einigungsprozesses sowie den internationalen Kontext seit 1989/90 bis heute nach. Es bündelt die Erträge des Forschungsverbunds »Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch«
der Universitäten Jena und Halle, der weltweit einzigen Großforschung, die sich über zehn Jahre interdisziplinär und vergleichend entlang der Themen Eliten, Arbeit, Regionalität und Partizipation der Transformationsforschung widmete.