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Einspruch und Abwehr

Einspruch und Abwehr

Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung des . Antisemitismus (1879-1914)

Einspruch und Abwehr
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Veröffentlicht 2010, von Fritz Bauer Institut, Ulrich Wyrwa bei Campus

ISBN: 978-3-593-39278-3
Auflage: 1. Auflage
Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
372 Seiten
21.3 cm x 14 cm

 
Die Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert stellte die jüdische Bevölkerung in Europa vor eine gänzlich neue Situation. Sie sah sich neuartigen Formen von Angriffen, Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt. In einem breiten europäischen Panorama beschreibt das Jahrbuch die politischen und intellektuellen Reaktionen der Juden auf diese Bedrohung. Die Gegenwehr der Juden wird dabei ...
Werbliche Überschrift
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

Textauszug
Die Entstehung des Antisemitismus in Europa und die Reaktion des europäischen Judentums: Eine Einleitung
Ulrich Wyrwa

"Warum ich mich in Disput eingelassen, fragen Sie
mich? Ich wollte nur, ich hätte mich etwas mehr
eingelassen. […] Hat mancher geglaubt, zu allem
stillschweigen zu müssen; ich glaube es nicht."
Moses Mendelssohn an Elkan Herz
(16. November 1770)

"Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zu
Aufklärung zweideutig sich verhält."
Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des
Antisemitismus heute (1962)

Die Entstehung des Antisemitismus hat die jüdische Bevölkerung vor eine gänzlich neue Situation gestellt, sie sah sich ungeahnten Formen von Bedrohung, Verfolgung und Anfeindung ausgesetzt. Judenfeindschaft hat eine lange Tradition in Europa, mit dem immer wieder behinderten, von vielen Seiten bekämpften Prozess der Emanzipation artikulierte sich diese jedoch in neuer Gestalt. Der Begriff für diese neue Form von Judenfeindschaft - Antisemitismus - wurde genau in jenem historischen Moment geprägt, in dem die politische und rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung auf dem Berliner Kongress zu einem Grundsatz der europäischen Diplomatie und zur Bedingung für die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten in Europa geworden war. Spektakulär zum Ausbruch gekommen waren die neuen judenfeindlichen Haltungen in den Hep-Hep-Krawallen von 1819, in den folgenden Jahrzehnten artikulierten sie sich vornehmlich in einzelnen Schriften und öffentlichen Debatten. Zu einer breite Schichten der Bevölkerung erfassenden sozialen Bewegung sowie zu einer in Parteien organisierten politischen Bewegung wurde diese neue Judenfeindschaft in dem Moment, als mit dem Begriff Antisemitismus ein wirkungsmächtiges Schlagwort geprägt war und erste Organisationen auftraten, die sich ganz in den Dienst ihrer antisemitischen Mission stellten.
In der Retrospektive haben nicht wenige jüdische Intellektuelle dem zeitgenössischen Judentum vorgeworfen, sich wehrlos ihrem Schicksal ergeben, die Gefahren ignoriert und keinen Widerstand gegen den aufkommenden Antisemitismus geleistet zu haben. Insbesondere die in der zionistischen Bewegung aktive junge Generation um 1900 hatte das jüdische Establishment beschuldigt, sich nicht hinreichend gegen den Antisemitismus zur Wehr gesetzt und keinen effizienten politischen Widerstand organisiert zu haben. Hannah Arendt hatte in den 1940er Jahren den Juden ein "völliges Unverständnis für Politik" vorgeworfen, und in ihrer 1951 erschienenen Studie zum Antisemitismus in dem Band Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickelte sie die These, dass die Juden dem Antisemitismus gegenüber "immer hilflos gewesen" seien, weil sie "ohnehin eine wehrlose Gruppe waren".
Tatsächlich aber gehörten Juden bereits im 18. Jahrhundert, als sie begannen aus dem sozialen Abseits in die Mitte der Gesellschaft einzutreten und gleichzeitig heftiger Widerstand dagegen erhoben wurde, zu den ersten und oftmals einzigen, die den Angriffen und Zurücksetzungen widersprachen sowie den Beleidigungen und Verunglimpfungen entgegentraten. Moses Mendelssohn forderte bereits in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts öffentlich Toleranz gegenüber Juden ein, und Mitte der 1770er Jahre protestierte er gegen eine in Warschau erhobene Ritualmordbeschuldigung. Zusammen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde von Berlin appellierte er an polnische Adlige, gegen diese Verleumdungen vorzugehen.
Mit den neuen Formen von Politik und der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert lernten Juden die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen zur Vertretung ihrer Interessen boten. Ihr Kampf um Anerkennung und bürgerliche Gleichberechtigung wurde zugleich zu einem Kampf um die öffentliche Meinung und die kulturelle Hegemonie. In den immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über die Stellung der Juden in der Gesellschaft wie dem Grattenauer-Streit oder der Streckfuß-Debatte traten Juden den darin geäußerten judenfeindlichen Bekenntnissen nachdrücklich entgegen. So waren es in dem von dem Berliner Historiker Heinrich von Treitschke 1879 ausgelösten "Berliner Antisemitismusstreit" zunächst allein jüdische Bürger, die gegen die Verunglimpfungen und Verdächtigungen Einspruch erhoben.
Unmittelbar nachdem der Begriff Antisemitismus im Umfeld des politischen Schriftstellers und Journalisten Wilhelm Marr im Herbst 1879 in Berlin geprägt worden war, verbreitete sich dieser Neologismus sehr rasch in alle europäischen Sprachen. Die in diesem neuen Terminus zum Ausdruck kommende neue Form von Judenfeindschaft wurde zu einem europäischen Phänomen.
Im Unterschied zur traditionellen, religiös begründeten Judenfeindschaft zeichnete sich der Antisemitismus dadurch aus, dass er sich gegen ein grundlegend verändertes Judentum richtete. Die jüdische Bevölkerung war in weiten Teilen Zentraleuropas keine im Abseits der Gesellschaft stehende, verachtete und religiös ausgegrenzte Gruppe mehr, sondern eine religiös besondere Gruppe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. In dem historischen Augenblick, als mit der Durchsetzung der freien Marktordnung und der Industrialisierung die Menschen vor bisher gänzlich ungewohnte Anforderungen gestellt und sich tiefen sozialen Erschütterungen sowie mentalen Verwerfungen ausgesetzt sahen, flüchteten sich nicht wenige der von diesen kulturellen und alltagsgeschichtlichen Umbrüchen zutiefst verunsicherten Zeitgenossen dahin, den Juden die Schuld an diesen gesellschaftlichen Umwälzungen zuzuweisen. Die Verantwortung für die Zersetzung der über Jahrhunderte tradierten Subsistenzökonomie sowie der alten moral economy, die Schuld dafür, dass eine kapitalistische Marktordnung und ein kommerzialisiertes Alltagsleben an dessen Stelle getreten ist, schrieben verunsicherte und verängstige Zeitgenossen den Juden zu. Die tradierten Feindbilder von Juden als Wucherern und Händlern boten ihnen eine vermeintliche Erklärung an. Den Juden wurde, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet haben, "das ökonomische Unrecht" des gesamten Wirtschaftssystems aufgebürdet. Die Probleme der europäischen Gesellschaft verschärften sich dadurch, dass die Umwälzung von der traditionalen Subsistenzökonomie hin zur kapitalistischen Marktordnung mit einer exorbitanten Zunahme der Bevölkerung einherging: Lebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts knapp 270 Millionen Menschen in Europa, so waren es um 1914 schon nahezu 460 Millionen.

Beschreibung
Die Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert stellte die jüdische Bevölkerung in Europa vor eine gänzlich neue Situation. Sie sah sich neuartigen Formen von Angriffen, Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt. In einem breiten europäischen Panorama beschreibt das Jahrbuch die politischen und intellektuellen Reaktionen der Juden auf diese Bedrohung. Die Gegenwehr der Juden wird dabei nicht nur in den nationalen Kontexten vorgestellt, es werden auch die transnationalen Verflechtungen diskutiert. Insbesondere das Bild der Juden als wehrlose Opfer wird kritisch hinterfragt und korrigiert.

Über Fritz Bauer Institut, Ulrich Wyrwa

Ulrich Wyrwa ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Projektleiter am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.