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Spiegelungen / Vite allo specchio
Zehn neue literarische Stimmen aus Italien / dieci nuovi protagonisti della scena letteraria italiana
Taschenbuch
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Veröffentlicht 2018, von Paolo Di Paolo, Simone Giorgi, Gabriella Kuruvilla, Gaia Manzini, Ludovica Medaglia, Demetrio Paolin, Anna Pavignano, Igiaba Scego, Simona Sparaco, Nadia Terranova bei nonsolo Verlag
ISBN: 978-3-947767-00-7
Auflage: 1. Auflage
240 Seiten
21 cm x 13.5 cm
Die Anthologie präsentiert in einer originellen zweisprachigen Ausgabe zehn Erzählungen ebenso vieler erfolgreicher italienischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind. Der Leitfaden aller Werke, die zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden, ist die Suche nach Identität in all ihren Facetten. Zehn neue literarische Stimmen, zehn individuelle ...
Beschreibung
Die Anthologie präsentiert in einer originellen zweisprachigen Ausgabe zehn Erzählungen ebenso vieler erfolgreicher italienischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind. Der Leitfaden aller Werke, die zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden, ist die Suche nach Identität in all ihren Facetten. Zehn neue literarische Stimmen, zehn individuelle Wege, über sich selbst und das Leben zu reflektieren.
Textauszug
SPIEGELUNGEN, ZEHN NEUE LITERARISCHE STIMMEN AUS ITALIEN
Paolo Di Paolo
Der Hafen des Vergessens
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Dobrodošli. Ein Wort hat genügt. Es hat genügt, es auf einem Schild zu lesen
– es in Zadar zu lesen –, um die Erinnerung zu wecken. Ich hatte eine
Sprache gelernt, vor zwanzig Jahren! Doch es war, als hätte ich sie gelöscht,
verdrängt. Wo hatten sie sich nur versteckt, die Brocken Serbokroatisch
– erworben im schmucklosen Raum eines Kulturvereins in Ciampino?
Wo waren sie gelandet, in welchem Brunnen des Vergessens, dobar dan, dobro
veče, guten Tag, guten Abend, molim vas, bitte, danke, auf Wiedersehen?
Ich konnte den einen oder anderen Satz lesen und aufsagen, konnte „Wie
geht es dir?” fragen, was mich zum Lachen brachte: Kako si? „Dobrodošli, Dalibor.”
„Kako si, Dalibor?” Ein Gruß, den man benutzt, wenn jemand ankommt:
Dobrodošli. „Willkommen”. So hatte es auf Serbokroatisch und Italienisch in
großen roten Lettern auf einem Transparent gestanden, das an ihn, an sie
alle gerichtet war: damals, als sie auf einem kleinen Platz in der Nähe des
Bahnhofs aus dem Bus stiegen. Ein paar Kinder ohne Familie oder aber aus
kaputten, durch den Krieg zerrissenen Familien.
Dalibor! Wenn es stimmt, dass die Zeit für alle gleich schnell vergeht,
müsste er jetzt mehr oder weniger in meinem Alter sein. Ich habe nur einen
winzigen Ausschnitt aus seinem Leben mitbekommen und er aus meinem
– einen Sommer, anderthalb Monate im Sommer 1995. Das war es dann.
Danach habe ich nicht mehr nach ihm gesucht, ihm nicht geschrieben und
mich auch nicht nach ihm erkundigt. Ohne dass ich jetzt wüsste, warum.
Ich kann den Grund für diese plötzliche Gleichgültigkeit nicht benennen.
Wir hatten uns doch angefreundet in diesen anderthalb Monaten – so wie
es zwei zwölfjährige Jungen unweigerlich tun, die sich noch nie zuvor gesehen
haben, dann aber die sich träge hinziehenden Schulferien tagtäglich
vom Frühstück bis zum Abendessen gemeinsam verbringen. Und dabei alles
teilen müssen – auch das Kinderzimmer, mein Kinderzimmer, und sogar die
Klamotten, wenn nötig.
Ich könnte auf Facebook nach ihm suchen, doch darauf habe ich keine
Lust. Ich kann mich noch an seinen Nachnamen erinnern und sehr gut an
sein Gesicht – an seine Art, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf
schräg zu legen, bis das Kinn beinahe die rechte Schulter berührt.
Ich habe auch nicht vor Ort nach ihm gesucht. Das wäre gar nicht gegangen
– deswegen hatte ich die Reise nicht angetreten. Mit ein paar T-Shirts,
Unterhosen und Büchern im Gepäck erkundete ich Kroatien wie ein Badeurlauber.
Zuerst mit einem Zug, der in Rovigno, Rovinj, hält, wo alles so
13
aussieht wie eine etwas seltsame Fortsetzung von Italien; und wo dich der
istrische Kellner sofort aufzieht: ’taliano? Bravo. Dann mit dem Bus nach
Pula – ein kleines Hotel neben dem römischen Triumphbogen erinnert
daran, dass Joyce mal irgendwo hier gewohnt hat: Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts, als Englischlehrer für österreichisch-ungarische Offiziere.
Mit der Fähre von Pula nach Zadar, Aufbruch bei Sonnenaufgang – eingehüllt
in rosa Morgendunst. Die Dinge haben ihre Konturen noch nicht
wiedererlangt. Mit belegter Zunge döst du weiter, machst die Augen auf
und schließt sie noch mal, schlägst sie erneut auf, und dann ist da nur noch
Meer. Die Adria, wie es gleich zu Beginn des kleinen Reisebreviers heißt, das
ich dabei habe.
Die Seiten wellen sich vom Salzwasser und das gefällt mir. Breviario mediterraneo
von Predrag Matvejević. Als es heute vor dreißig Jahren erschien,
hat es uns gelehrt, das Mittelmeer, das wir mare nostrum nennen, mit anderen
Augen zu sehen. Ich weiß, dass meine entspannten, abgelenkten Mitreisenden
das nicht präsent haben – der Riesenkerl, der sich auf den Sitzen
ausstreckt, den Schonbezug von der Kopflehne reißt und ihn sich über die
Augen wirft, die Freundin, die sich auf ihn legt, den Kopf zwischen seinen
Beinen. Eher verschlafen als sinnlich. „Es ist schwer, die tatsächliche Farbe
des Meeres zu bestimmen”, lese ich. „Es gibt so viele, verschiedenartige, unfassbare.
Wir bezeichnen es normalerweise als blau, aber das ist es längst
nicht immer.”
Die Anthologie präsentiert in einer originellen zweisprachigen Ausgabe zehn Erzählungen ebenso vieler erfolgreicher italienischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland noch wenig bekannt sind. Der Leitfaden aller Werke, die zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden, ist die Suche nach Identität in all ihren Facetten. Zehn neue literarische Stimmen, zehn individuelle Wege, über sich selbst und das Leben zu reflektieren.
Textauszug
SPIEGELUNGEN, ZEHN NEUE LITERARISCHE STIMMEN AUS ITALIEN
Paolo Di Paolo
Der Hafen des Vergessens
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Dobrodošli. Ein Wort hat genügt. Es hat genügt, es auf einem Schild zu lesen
– es in Zadar zu lesen –, um die Erinnerung zu wecken. Ich hatte eine
Sprache gelernt, vor zwanzig Jahren! Doch es war, als hätte ich sie gelöscht,
verdrängt. Wo hatten sie sich nur versteckt, die Brocken Serbokroatisch
– erworben im schmucklosen Raum eines Kulturvereins in Ciampino?
Wo waren sie gelandet, in welchem Brunnen des Vergessens, dobar dan, dobro
veče, guten Tag, guten Abend, molim vas, bitte, danke, auf Wiedersehen?
Ich konnte den einen oder anderen Satz lesen und aufsagen, konnte „Wie
geht es dir?” fragen, was mich zum Lachen brachte: Kako si? „Dobrodošli, Dalibor.”
„Kako si, Dalibor?” Ein Gruß, den man benutzt, wenn jemand ankommt:
Dobrodošli. „Willkommen”. So hatte es auf Serbokroatisch und Italienisch in
großen roten Lettern auf einem Transparent gestanden, das an ihn, an sie
alle gerichtet war: damals, als sie auf einem kleinen Platz in der Nähe des
Bahnhofs aus dem Bus stiegen. Ein paar Kinder ohne Familie oder aber aus
kaputten, durch den Krieg zerrissenen Familien.
Dalibor! Wenn es stimmt, dass die Zeit für alle gleich schnell vergeht,
müsste er jetzt mehr oder weniger in meinem Alter sein. Ich habe nur einen
winzigen Ausschnitt aus seinem Leben mitbekommen und er aus meinem
– einen Sommer, anderthalb Monate im Sommer 1995. Das war es dann.
Danach habe ich nicht mehr nach ihm gesucht, ihm nicht geschrieben und
mich auch nicht nach ihm erkundigt. Ohne dass ich jetzt wüsste, warum.
Ich kann den Grund für diese plötzliche Gleichgültigkeit nicht benennen.
Wir hatten uns doch angefreundet in diesen anderthalb Monaten – so wie
es zwei zwölfjährige Jungen unweigerlich tun, die sich noch nie zuvor gesehen
haben, dann aber die sich träge hinziehenden Schulferien tagtäglich
vom Frühstück bis zum Abendessen gemeinsam verbringen. Und dabei alles
teilen müssen – auch das Kinderzimmer, mein Kinderzimmer, und sogar die
Klamotten, wenn nötig.
Ich könnte auf Facebook nach ihm suchen, doch darauf habe ich keine
Lust. Ich kann mich noch an seinen Nachnamen erinnern und sehr gut an
sein Gesicht – an seine Art, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf
schräg zu legen, bis das Kinn beinahe die rechte Schulter berührt.
Ich habe auch nicht vor Ort nach ihm gesucht. Das wäre gar nicht gegangen
– deswegen hatte ich die Reise nicht angetreten. Mit ein paar T-Shirts,
Unterhosen und Büchern im Gepäck erkundete ich Kroatien wie ein Badeurlauber.
Zuerst mit einem Zug, der in Rovigno, Rovinj, hält, wo alles so
13
aussieht wie eine etwas seltsame Fortsetzung von Italien; und wo dich der
istrische Kellner sofort aufzieht: ’taliano? Bravo. Dann mit dem Bus nach
Pula – ein kleines Hotel neben dem römischen Triumphbogen erinnert
daran, dass Joyce mal irgendwo hier gewohnt hat: Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts, als Englischlehrer für österreichisch-ungarische Offiziere.
Mit der Fähre von Pula nach Zadar, Aufbruch bei Sonnenaufgang – eingehüllt
in rosa Morgendunst. Die Dinge haben ihre Konturen noch nicht
wiedererlangt. Mit belegter Zunge döst du weiter, machst die Augen auf
und schließt sie noch mal, schlägst sie erneut auf, und dann ist da nur noch
Meer. Die Adria, wie es gleich zu Beginn des kleinen Reisebreviers heißt, das
ich dabei habe.
Die Seiten wellen sich vom Salzwasser und das gefällt mir. Breviario mediterraneo
von Predrag Matvejević. Als es heute vor dreißig Jahren erschien,
hat es uns gelehrt, das Mittelmeer, das wir mare nostrum nennen, mit anderen
Augen zu sehen. Ich weiß, dass meine entspannten, abgelenkten Mitreisenden
das nicht präsent haben – der Riesenkerl, der sich auf den Sitzen
ausstreckt, den Schonbezug von der Kopflehne reißt und ihn sich über die
Augen wirft, die Freundin, die sich auf ihn legt, den Kopf zwischen seinen
Beinen. Eher verschlafen als sinnlich. „Es ist schwer, die tatsächliche Farbe
des Meeres zu bestimmen”, lese ich. „Es gibt so viele, verschiedenartige, unfassbare.
Wir bezeichnen es normalerweise als blau, aber das ist es längst
nicht immer.”