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Veröffentlicht 2019, von Irma Joubert bei Francke-Buch, LAPA Uitgewers, South Afrika

ISBN: 978-3-96362-072-0
Auflage: 1. Auflage
480 Seiten
21.5 cm x 13.5 cm

 
Südafrika in den 1920er- bis 1970er-Jahren:
Es ist eine heile Welt, in der Lettie Louw aufwächst – und doch fehlt ihr ein Stück zum Glück. Zu sehr fühlt sie sich als das hässliche Entlein zwischen all ihren hübschen Freundinnen. Kein Wunder, dass es auch mit den Jungs nicht klappt. Umso eifriger kniet sie sich ins Studium der Medizin; sie will als würdige Nachfolgerin die Arztpraxis ...
Beschreibung
Südafrika in den 1920er- bis 1970er-Jahren:
Es ist eine heile Welt, in der Lettie Louw aufwächst – und doch fehlt ihr ein Stück zum Glück. Zu sehr fühlt sie sich als das hässliche Entlein zwischen all ihren hübschen Freundinnen. Kein Wunder, dass es auch mit den Jungs nicht klappt. Umso eifriger kniet sie sich ins Studium der Medizin; sie will als würdige Nachfolgerin die Arztpraxis ihres Vaters übernehmen. Zu ihren ersten Patienten gehört ein außergewöhnlicher Mann. Marco Romanelli kommt aus Italien. Im warmen Klima Afrikas sucht er Heilung von den Verletzungen, die man ihm zugefügt hat – in einem KZ in Polen während des Krieges. Schnell entdeckt Lettie hinter dem herausfordernden »Fall« einen faszinierenden Menschen, mit dem sie viel verbindet. Und bald nimmt ihr Lebensweg überraschende Wendungen …

Erstes Kapitel
1. Kapitel

Lettie und Annabel sind Freundinnen. Schon immer gewesen. Letties Vater ist der einzige Arzt im Dorf und der Vater von Annabel der einzige Notar. Und so hat Annabels Mutter schon damals, als sie noch ganz klein waren, entschieden, dass Lettie gut genug ist, um mit ihrem Töchterlein spielen zu dürfen.
Lettie wohnt mit ihren Eltern in der Voortrekkerstraße. Das Wohnzimmer benutzen sie nur, wenn der Pfarrer zu Besuch kommt. Im Winter und am Sonntag sitzen sie abends gemütlich um den Tisch in der großen Küche mit dem Aga-Herd, an dem ihre Mutter fortwährend geschäftig herumhantiert. Im Sommer, wenn es im Bosveld heiß und trocken ist, sitzen sie auf der hinteren Veranda. Das Fliegengitter hält die Fliegen und Mücken draußen, es sei denn, jemand vergisst die Klapptür wieder ordentlich hinter sich zu verschließen. Es riecht immer lecker bei ihnen im Haus, denn Letties Mutter bereitet oft eine kleine Überraschung vor, wenn Lettie und ihr Vater abends nach Hause kommen.
Annabel dagegen wohnt in einem großen Haus ein Stück die Straße hinauf. An der Vorderseite ist eine halbrunde Veranda mit Säulen und eine Treppe mit vier Stufen. Die schwere Eingangstür hat eine Klingel; wenn Lettie zum Spielen vorbeikommen will, muss sie klingeln. Dann öffnet ihr eine schwarze Frau in einer ordentlichen Uniform die Tür. Drinnen liegen dicke Teppiche auf den glänzenden Böden. Annabel und sie dürfen nur auf der Ve-
randa spielen, sonst bringen sie im Haus alles durcheinander.
Annabels Mutter ist eine große, dünne Frau. Sie hat tiefschwarzes Haar und ist sehr streng. Annabels Vater ist groß, er hat nur noch sehr wenige Haare und eine Brille und er ist immer ein bisschen rot im Gesicht. Zu Hause ist er eigentlich nie, weil er sehr hart arbeitet. Aber im Gottesdienst sieht Lettie ihn manchmal.
Es ist nicht wirklich schön, wenn sie bei Annabel spielen. Deshalb gehen sie meistens zu Lettie nach Hause.
In der ersten Klasse der Mittelschule stoßen auch alle Kinder aus den Kleinstschulen in der Umgebung zu ihnen. Sie wohnen alle im Internat. So lernt Lettie auch Klara und Christine kennen.
Annabel und Christine kennen sich schon, denn ihre Eltern sind miteinander befreundet. Christines Vater ist der Vorsitzende der örtlichen Wahlvereinigung und ein Mitglied im Provinzialrat, deshalb ist er ganz schön wichtig. Christine ist nicht wichtig, sie ist einfach nur eine Freundin.
Lettie interessiert sich von Anfang an für Klara und Christine. Sie wäre gern Klaras beste Freundin, aber das ist ja schon Christine. Eine beste Freundin hat Lettie nicht – Annabel wird jedenfalls mit Sicherheit nicht wollen, dass sie ihre beste Freundin ist.
Lettie ist schon immer die allerbeste und allerschönste Tochter ihres Vaters und der allerliebste Schatz ihrer Mutter. Ihre Eltern sind beide klein und freundlich und ganz schön mollig. Lettie sieht beiden ähnlich und ist ein glückliches Kind. Doch mit vierzehn Jahren bemerkt sie zum ersten Mal, wie gut ihre Freundinnen aus der Schule aussehen. Klara hat goldbraunes, leicht gelocktes Haar, das sich ständig aus ihren Zöpfen löst und in Strähnen herunterhängt. Dann streicht sie es sich hinter die Ohren. Sie hat rosige Wangen und wunderschöne grüne Augen. Sie ist ziemlich gut in Sport und kann wirklich schön singen. Mollig ist sie überhaupt nicht.
Christine ist eher klein und hat blonde Locken und blaue Augen. Sie sieht immer ein bisschen ängstlich aus – oder vielleicht ist sie auch nur unsicher – und ihr fällt es etwas schwer, in der Schule mitzukommen. Klara hilft ihr oft. Christine ist einfach ein Porzellanpüppchen, so hübsch ist sie.
Annabel ist groß und schlank und hat wohlgeformte Beine und eine sonnengebräunte Haut. In Sport schneidet sie sehr gut ab und sie ist auch sehr intelligent. Ihr langes, dunkles Haar trägt sie meistens zu einem Zopf geflochten, aber wenn es irgend geht, trägt sie es offen und dann fällt es ihr glänzend und sanft wie Seide über die Schultern. Sie hat dunkle Augen, genau wie ein Filmstar, perlweiße Zähne und volle Lippen.
Annabel ist eine Schönheit, wird der jungen Lettie klar.
Und alle Jungs sind ganz verrückt nach ihr.
Zusammen mit Klara und Christine kommt auch noch ein Junge zu ihnen in die Klasse, er stammt aus derselben Kleinstschule und heißt Gerbrand Pieterse. Er bekommt ein Stipendium der Armenfürsorge, weil die Regierung für arme Kinder das Schulgeld zahlt. Er ist groß und stark, hat rote Haare und Sommersprossen. Er ist ein echter Wildfang und Lettie ist ein bisschen auf der Hut vor ihm.
Klaras Bruder ist nur ein Jahr älter als sie. De Wet heißt er und alle Mädchen in der Schule sind in ihn verliebt, sogar die Mädchen in der Abschlussklasse, obwohl er eine ganze Ecke jünger ist als sie.
De Wet kann alles: Er ist im Sport der Beste, er spielt in der ersten Rugby-Mannschaft, obwohl er erst fünfzehn ist, er ist jedes Jahr der Beste in seiner Klasse und er singt in der Operette die Hauptrolle. Dabei ist er auch noch einfach nett zu jedem, auch zu Lettie.
Er kann sich sogar an ihren Namen erinnern.
»Hallo, Lettie«, sagt er eines Morgens während des Gemeindebasars. »Ich wusste gar nicht, dass so ein schlauer Fuchs wie du sogar Pfannkuchen backen kann.«
»Ich verkaufe sie auch nur«, erwidert sie verlegen. Weil er so groß ist, muss sie zu ihm aufschauen. In seinen grünen Augen blitzt der Schalk in kleinen Lichtern auf.
»Na, dann haben sie jedenfalls die richtige Person gefunden, um das Geld im Auge zu behalten. Was für ein wunderbarer Tag ist das doch, findest du nicht auch?«, plaudert er, während sein langer, schlaksiger Körper entspannt gegen den Tisch lehnt. »Was meinst du, liegen da hinten nicht vielleicht noch ein oder zwei missglückte Pfannkuchen, für die keiner einen roten Heller zahlen würde?«
Sie findet drei und streut eine ganze Menge Extrazucker und -zimt darauf.
»Danke, wow, du bist wirklich klasse«, bedankt er sich fröhlich.
Abends steht Lettie eine ganze Weile vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern. »Das ist einfach nur Babyspeck, den wirst du irgendwann los«, tröstet sie ihr Vater immer, aber jetzt ist sie schon fast fünfzehn.
Sie tritt etwas näher an den Spiegel heran und betrachtet ihr Gesicht mit einem prüfenden Blick. Ihre Haut sieht ganz anders aus als die von Klara und Annabel. »Das kommt nur davon, dass deine Haut ein bisschen fettig ist, aber das bedeutet auch, dass du später nicht so schnell Falten bekommst«, erklärt ihre Mutter immer tröstend. Aber später ist im Augenblick nicht wichtig.
Und sie trägt eine Brille.
Die hat sie schon, seit sie acht ist.
Annabel hat damals laut losgelacht. »Jetzt siehst du wirklich wie eine Eule aus mit deinem runden Gesicht und den runden Gläsern. So sehen deine Augen noch größer aus.«
Die anderen Kinder haben mitgelacht. Alle haben immer nur gemacht, was Annabel gesagt hat. Lettie hat an diesem Tag beschlossen, nie mehr die Freundin von Annabel werden zu wollen.
Am selben Abend ist allerdings Annabels Vater vorbeigekommen und hat Annabel und ihren Bruder Reinier vorbeigebracht, damit sie bei Lettie und ihren Eltern übernachten konnten. Und Letties Vater ist zusammen mit Annabels Vater weggefahren.
Erst viel später hat Lettie von dem großen Problem bei Annabel zu Hause erfahren, dem Problem, weswegen Annabel und ihr Bruder von nun an immer wieder bei Lettie zu Hause schlafen. Den Trinkteufel, nennt Letties Mutter es.
Vor dem Spiegel im Schlafzimmer ihrer Eltern beschließt Lettie, nie mehr Kuchen oder Pudding oder irgendetwas anderes Leckeres zu essen.
Aber ihrem Vorsatz bleibt sie nicht lange treu.
Die Schmetterlinge in ihrem Bauch, die anfangen herumzuflattern, wenn De Wet in der Nähe ist, die bleiben. Und sie machen ihr ein herrliches, traumartiges Gefühl.

Dann kommt das Voortrekkerlager.
Letties Vater setzt sie mit ihrem Koffer, der Frühstücksdose und der zusammengerollten Decke am Schultor ab. »Hierher, Lettie!«, ruft Klara, die gemeinsam mit Christine neben dem Lastwagen steht und winkt. De Wet und sein Freund Braam sind damit beschäftigt, die Koffer und Taschen in den Lastwagen zu laden. De Wet springt von der Ladefläche herunter und marschiert auf Lettie zu. »Hallo, Lettie, soll ich deinen Koffer auch schon einladen?«
»Ich … ich möchte das lieber selbst tun, okay?«, erwidert sie schüchtern.
»Das kommt gar nicht infrage!«, lacht er ungezwungen. Seine Augen blitzen und sein blonder Schopf fällt ihm über die Stirn.
Die Schmetterlinge flattern beinahe durch Letties feuerrote Ohren nach draußen.
Annabel kommt erst, als alle anderen schon fast abmarschbereit sind. Ihr Voortrekkerkleid ist zu kurz und ihre Haare hängen lose herunter. Dennoch sieht sie sehr gut aus; sie ist immer hübsch, egal, was sie anhat. »De Wet! Braam!«, ruft sie und zeigt auf ihren großen Koffer und ihre zusammengerollte Decke.
Was ist sie doch für eine Verführerin, denkt Lettie und schiebt sich die dicke Brille etwas höher auf die Nase. Doch Annabels lange Beine unter dem zu kurzen Kleid bemerkt sie auch und unwillkürlich spürt sie einen Anflug von Bewunderung für ihren Schneid.
Am Abend machen sie ein großes Lagerfeuer. Sie sitzen auf dem Boden um das Feuer herum, Klara zwischen Lettie und Christine. Annabel geht jedoch auf die andere Seite des Feuers und fängt an, auf De Wet einzureden. De Wet lächelt ihr entgegen und rutscht ein wenig zur Seite, damit Annabel sich zwischen ihn und Braam hineinarbeiten kann. Lettie hat plötzlich einen Kloß in der Kehle.
Sie singen miteinander Voortrekkerlieder und Lettie würgt die Worte an dem Kloß vorbei. Onkel Jan Kommandant erzählt ihnen von der Hundertjahrfeier, dem symbolischen Ochsenwagenzug und dem Fackellauf. Aber Lettie hört nichts von dem, was er sagt. Der Rauch des Feuers brennt ihr so in den Augen, dass sie in eine andere Richtung schauen muss.
Es wird das schlimmste und elendeste Wochenende ihres Lebens. Lettie entdeckt in sich eine giftige Eifersucht, die sie von sich selbst nicht kennt und die sie auch nicht empfinden möchte. Das ganze Wochenende über macht Annabel sich an De Wet he-ran. Und De Wet sieht das ganze Wochenende über so aus wie eine Katze, die von süßem Rahm genascht hat.

Im letzten Quartal strengt sich Lettie mehr an als je zuvor. Sie liest die vorgeschriebenen Bücher noch einmal ganz durch und fängt sogar mit dem Zeitungslesen an, sodass sie wenigstens mitreden kann, wenn Klara und Annabel über Politik sprechen.
Langsam, aber sicher beginnt sie das Lagerwochenende zu vergessen. Am letzten Schultag wird sie als beste Schülerin mit einem Preis ausgezeichnet. Allerdings wird sie nicht zur Jahrgangsvertreterin gewählt, genauso wenig wie Christine. Als Klara und Annabel zum Podium treten, rutscht Christine einen Platz zur Seite und setzt sich neben Lettie. Und als Klara dann auch noch Leiterin der Jahrgangsvertreterinnen wird, tritt De Wet, der als Jahrgangsvertreter des letzten Jahres auch auf der Bühne steht, unverzüglich nach vorn, umarmt sie und gibt ihr vor den Augen der ganzen Schule ihren ersten Glückwunschkuss.
»Hey«, seufzt Christine neben Lettie, »welcher andere Junge würde sein Schwesterchen einfach so küssen, wenn alle anderen dabei zuschauen? Oh, Lettie, so wie er ist niemand auf der Welt, findest du nicht auch?«
Lettie nickt schweigend. Doch sie spürt jedes Wort und ihr Herz schwillt so sehr an, dass es beinahe platzt, so sehr, dass sie kaum noch Luft bekommt.

Am Montag reisen sie mit dem Zug zur Hundertjahrfeier ab. Vom Bahnhof in Pretoria werden die Kinder mit großen Bussen zum Lagergelände gebracht. »Meine Beine sind von all der Fahrerei schon ganz lahm, ich bleibe einfach stehen«, verkündet Annabel, denn es gibt mehr Kinder als Sitzplätze im Bus. Doch sobald zwei Jungen aus Louis Trichardt zur Seite rutschen und ihr einen Platz anbieten, schiebt sie sich doch zwischen sie.
Wie bekommt sie das nur hin, überlegt Lettie verblüfft.
Als sie ihr Gepäck zum Zelt tragen müssen, hebt Annabel ihren Koffer nicht hoch, sondern schaut sich nur um. »Ich suche schnell ein paar starke Männer, die uns beim Tragen helfen können.«
»Ich trage meinen Koffer selbst«, stottert Lettie ängstlich zurück.
»Bloß nicht!«, erwidert Annabel. »Du wirst sehen, wie besessen die galanten Herren darauf sind, uns zu Hilfe zu kommen.«
Und so ist es dann auch. Annabel neigt den Kopf ein bisschen zur Seite und zieht einfach mühelos und mit einem seligen Lächeln die Schultern hoch. Sofort kommen drei Jungen angelaufen.
»Können wir dir helfen?«, fragt einer von ihnen.
Annabel schaut total überrascht auf. »Meinst du das wirklich? Aber … die Koffer sind furchtbar schwer.«
Einer der Jungen macht einen Schritt nach vorn und packt den größten Koffer. »Ach, das geht schon, das ist kein Problem!«, entgegnet er.
»Puh«, macht Annabel. »Du musst ganz schön stark sein.«
Die drei Jungen gehen mit Annabel und Lettie mit. Annabel plaudert die ganze Zeit bis zum Zelt und macht Scherze, während Lettie still hinterherschlendert. Sie fühlt sich unwohl in ihrer Haut. Als sie im Zelt allein sind, wirft Annabel ihren Voortrekkerhut entspannt auf ihr Deckenbündel und erklärt: »Siehst du, Lettie, so geht man mit Jungen um. Die sind genau wie alle Mannsbilder: Sorge dafür, dass sie sich wie echte Kerle fühlen, dann fressen sie dir aus der Hand.«

Der 15. Dezember, ein Donnerstag, ist wieder ein sehr heißer Tag.
»Heute spielen sie ein Gefecht zwischen zwei Reitergruppen nach«, verkündet Klara aufgeregt. »Boelie und De Wet machen auch mit – wenn ihr mich fragt, wird das richtig gut.« Boelie ist Klaras ältester Bruder.
De Wet macht tatsächlich auch mit, sogar zu Pferd. Lettie stockt für einen Augenblick der Atem.
Nach dem Frühstück schlendern die Mädchen einen Hügel hinauf, um alles gut überblicken zu können. »Puh, wir hätten Sonnenschirme mitnehmen sollen, hier werden wir bei lebendigem Leib geröstet«, ärgert sich Lettie. Sie merkt, wie sie von der Sonne krebsrot wird.
»Hey, Lettie, du hörst dich an wie eine alte Frau«, seufzt Annabel. »Ein bisschen Sonne wird dir guttun; dann bist du nicht mehr so leichenblass wie sonst immer.«
Das Fest, auf das Lettie sich gefreut hat, wird immer weniger lustig.
Punkt halb zehn ertönt der Befehl: »Zum Angriff!«
Um sie herum fängt das Gewehrfeuer an zu rattern. Von überall versuchen Reiter zwischen Büschen und Bäumen hindurch zu manövrieren und möglichst unbemerkt vom Gegner aufzurücken. Das Getöse der explodierenden Granaten ist ohrenbetäubend. Hier und dort springt ein Reiter von seinem Pferd und versucht sich den Weg freizuschießen.
Christine hat beide Hände vors Gesicht geschlagen. »Wenn die sich nun gegenseitig totschießen?«, fragt sie ängstlich.
»Du lieber Himmel, Christine«, weist Annabel sie ungeduldig zurecht. »Glaubst du etwa, dass die richtige Kugeln und Granaten nehmen? Dir kann man wirklich alles weismachen!«
Plötzlich entdeckt Lettie ihn. Er liegt flach nach vorn gebeugt auf seinem Pferd, die Zügel straff in der Hand. Er jagt direkt auf den Feind zu.
»Da ist De Wet!«, ruft Klara auf einmal begeistert. »Schaut doch, da drüben auf dem freien Gelände! Seht doch nur, wie der abgeht!«
Lettie schaut ihm hinterher, bis er hinter einer Gruppe von Bäumen verschwindet. Dann lässt sie langsam ihren angehaltenen Atem entweichen. Es kann auf Erden keinen vollkommeneren Mann geben als ihn; so etwas kann es einfach nicht geben. Und nichts, was hiernach noch während dieser fantastischen Tage passieren mag, kein Theaterstück, keine feurige Ansprache, kein Feuerwerk, kann diesen Augenblick überschatten.
Früh am Abend, als sie zwischen den Zelten hindurch zum Lagerfeuer laufen, verkündet Klara: »Ich bin so stolz darauf, Afrikaa-
nerin zu sein.«
»Ich auch, Klara«, antwortet Christine. »Diese Woche werde ich nie vergessen.«
Ich auch nicht, denkt Lettie still. Denn ich bin verliebt, total verliebt. Vielleicht ist es ja die große Liebe, die ewige Liebe – und das ist das wunderbarste Gefühl, das es gibt.

»Wo ist Annabel?«, will Christine wissen, während sie am Feuer sitzen.
»Och, die wird schon irgendwo sein«, erwidert Klara vage.
»Sollten wir sie nicht suchen gehen?«, fragt Christine.
»Aber nein, lass sie doch einfach«, entgegnet Klara.
Jemand beginnt Akkordeon zu spielen und sie singen alle mit: »Die sweep het geklap en die wawiele draai …« (»Die Peitsche hat geknallt und die Wagenräder drehen sich …«).
Letties Augen gleiten langsam und suchend zwischen den Menschen hindurch.
Jetzt fällt das diatonische Akkordeon mit ein. »Aanstap, rooies, die pad is lank en swaar …« (»Auf geht’s, ihr Roten, der Weg ist lang und schwer …«).
Es sind einfach zu viele Menschen um das Lagerfeuer versammelt, daher kann sie ihn nicht ausfindig machen.
»Daar kom die wa …« (»Da kommen die Wagen …«) und »Hoe ry die Boere, sit-sit so …« (»Wie reiten die Buren, sitz-sitz so …«).
Sie kann ihn nirgendwo entdecken.
»O, boereplaas, geboortegrond, jou het ek lief bo alles!« (»Oh, Bauernhof, Heimaterde, dich liebe ich über alles!«).
Nun, nicht über alles, denkt Lettie schwelgend vor Glück. Vielleicht ist das Fest doch nicht so schlimm, wie sie heute Morgen noch gedacht hat. Eine herrliche Schläfrigkeit breitet sich in ihr aus. »Ich bin furchtbar müde, ich gehe schlafen«, verkündet sie den anderen.
»Wir kommen auch mit«, erwidert Klara. »Morgen ist der wichtigste Tag, da will ich nicht unausgeschlafen sein.«
Langsam schlendert Lettie zwischen den Zelten hindurch. Hinter sich hört sie den schleppenden Gesang der Leute, die mit dem Akkordeon nicht Schritt halten können: »Liewe maan, jy seilt so langsaam …« (»Lieber Mond, du segelst so langsam …«).
Sie ist überglücklich und spürt ein solches Gefühl von Freude, dass sie es nicht mit Worten beschreiben kann. Vielleicht ist das sogar ein unglaublich fantastisches Lager!
Sie lehnt sich an einen Baum und spürt den harten, rauen Stamm. Ich gehöre zum besten Volk der Erde, wird ihr klar. Ich bin auch so stolz, Afrikaanerin zu sein.
Sie schließt die Augen und ihr Herz ist ganz warm.
Und ich bin auch verliebt. Das ist … fantastisch. Und ich bin schläfrig.
Sie lächelt still vor sich hin. Ich muss schlafen gehen.
In der hellen, monderleuchteten Nacht schlendert sie weiter.
Dann sieht sie sie. Das Mädchen in den Armen des Jungen, wobei seine Hände an ihrem Rücken nach unten gleiten und sie dichter an sich heranziehen. Der Mann hat seinen Kopf geneigt und seinen Mund auf den ihren gepresst.
Das Mädchen ist groß und der Junge ist noch viel größer.
Es ist Annabel.
Mit De Wet.
Die Zeit steht still. Sie friert geradezu ein.
Schließlich dreht Lettie sich leise um und geht auf einem Umweg zu ihrem Zelt. Ihr Herz ist eiskalt und schlägt heftig. Sie zieht ihr Nachthemd an und rollt ihre Decken aus. Hastig kriecht sie hinein und drückt ihr Gesicht ins Kissen. So bleibt sie liegen. Mucksmäuschenstill. Der Kummer bildet eine harte Kruste um ihr Herz. Wenn sie bloß nicht weinen muss, wenn sie bitte bloß nicht weinen muss!
Sie möchte zu ihrer Mutter.
Kurz darauf hört sie Klara und Christine leise hereintreten. Eine Kleinigkeit später flüstert Christine mit unterdrückter Stimme: »Klara, er hat sie geküsst, ich habe es selbst gesehen.«
»Ach, das bedeutet gar nichts«, flüstert Klara zurück. »Jungen sind nun einmal so, die küssen einfach jedes Mädchen, das sie kriegen können. Und du weißt doch, wie Annabel ist …«
Aber … De Wet ist doch nicht so wie alle anderen Jungen, weint Letties Herz. Er ist …
Ohne sich zu rühren, liegt sie auf ihrer kleinen Insel aus Decken, während ihre Freundinnen leise ihre Decken ausrollen und ihre Kissen aufschütteln.
Sie lauscht vor allem Christine.
Denn die ist auch in De Wet verliebt, das weiß sie, während sich eine eisige Hand um ihr Herz schließt. Die hübsche, kleine Christine ist ebenfalls verliebt. Und auch sie hat heute Abend Kummer, tiefen und großen Kummer.
Allein Klara beginnt nach einer Weile tief und ruhig zu atmen.
Mitten in der Nacht kommt Annabel herein; mit viel Getöse macht sie sich bettfertig. Lettie liegt noch immer bewegungslos da. »Schläfst du schon?«, fragt Annabel.
Nein, denkt Lettie. Ich liege hier schon seit Stunden, ohne mich zu rühren, aber der Schlaf will sich nicht einstellen. Schließlich weiß ich es jetzt: Ich bin das Kind meiner geliebten Eltern, Gene von ihren Genen. Ich bin Lettie Louw. Einer wie De Wet Fourie wird nirgendwo auf mich warten.

Über Irma Joubert

Irma Joubert ist Historikerin und lebt in Südafrika. Sie war 35 Jahre lang Lehre- rin. Nach ihrer Pensionierung fing sie mit dem Schreiben an. Über ihre Heimat hinaus haben sich ihre Romane auch in den Niederlanden, den USA und in Deutschland zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.