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Vor-gelesen

Literaturtipps von einer Bücherfreundin

Maria Bauer ist Literaturfreundin, Juristin und leidenschaftliche Leserin. Für die facultas Dombuchhandlung am Stephansplatz liest sie aktuelle Belletristik und stellt sie vor.

 

Wir sitzen im Dickicht und weinen

Wir sitzen im Dickicht und weinen

Roman

Wir sitzen im Dickicht und weinen

Veröffentlicht 2024
von Felicitas Prokopetz bei Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0161-7

Valerie hat nicht die einfachste Beziehung zu ihrer Mutter. Am besten klappt es, wenn die beiden einander nur selten sehen. Doch eine Krebsdiagnose schafft neue Tatsachen - vom einen Tag auf den anderen muss Valerie für ihre Mutter da sein, ganz gleich, wie schwer ihr das fällt. Und ...

„Weil niemand Marthas Unfähigkeit als Mutter bemerken durfte, weinte sie nur, wenn sie mit dem Kind allein war.“

Valerie Steinberg ist beruflich erfolgreich, alleinerziehende Mutter eines sechzehnjährigen Sohnes und Tochter einer alleinstehenden Mutter. Diese hat nun eine Krebsdiagnose bekommen und setzt Valerie damit massiv unter Druck. Während Valerie die Erziehungspflichten gegenüber ihrem Sohn einerseits und die Forderungen ihrer Mutter andererseits unter einen Hut zu bringen versucht, arbeitet sie ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend auf. Darin kommt ihre Mutter gar nicht gut weg. Valerie war weitgehend sich selbst überlassen, hat Geborgenheit und Fürsorge nur an den Wochenenden bei ihrer Großmutter väterlicherseits erlebt. Ihrem Sohn möchte sie eine bessere Mutter sein, tendiert dadurch zum gegenteiligen Extrem.

Parallel zu Valeries Erinnerungen laufen Szenen aus dem Leben ihrer Mutter und ihrer beiden Großmütter ab. Und aus Sicht von Valeries Mutter, Christina, nimmt sich Valeries Kindheit ganz anders aus. Christina empfindet sich als moderne, liberale, aber aufopferungsvolle Mutter. Sie hat jedoch ihrerseits eine Rechnung mit ihrer Mutter, Martha, offen, die keinerlei mütterliche Gefühle für sie aufbringen konnte. Auch in Marthas Leben bekommen wir Einblick, und – erraten: Ihre Mutter hat sie nicht geliebt.

So sehen wir Generationen von ungeliebten Töchtern, die zu frustrierten Frauen, überforderten, nicht liebesfähigen Müttern werden, eine lange Reihe inkongruenter Mutter-Tochter-Beziehungen. Die Väter? Sie prügeln, sterben früh oder machen sich aus dem Staub.

So düster Felicitas Prokopetz‘ Befund der Familie, insbesondere der Mutter-Tochter-Beziehung, in einer patriarchalischen Gesellschaft ausfällt, so vergnüglich ist er zu lesen. Die Personen sind präzise gezeichnet, die Zwangsläufigkeit, mit der sie in ihrer unheilen Welt agieren, wird mit flotter Ironie vermittelt. Die zarte Innigkeit zwischen Valerie und ihrer Omi überzeugt genauso wie Valeries verstörende Gewaltfantasien über ihren Vater, ihren Hass auf die Mutter empfinden wir so lebhaft mit wie ihre Sorge um sie.


Ein zugleich bedrückender und amüsanter Familienroman.


Felicitas Prokopetz
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Eichborn
978-3-8479-0161-7
EUR 22,70

 

Oben in den Wäldern

Oben in den Wäldern

Roman

Oben in den Wäldern

Veröffentlicht 2024
von Daniel Mason bei C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-81381-8

EIN ZEITLOSER ROMAN ÜBER DIE EWIGE VERBINDUNG VON MENSCH UND NATUR Wer hat hier, wo ich wohne, schon einmal ein Leben geführt – und wer wird diesen Ort nach mir sein Zuhause nennen? Daniel Mason erzählt in seinem ...

„Die Toten gehen nicht fort. Die Welt wimmelt von ihren Geistern: Tausend Engel auf jedem Grashalm!“

Auch wenn in diesem Roman aus dem Leben sehr vieler Menschen erzählt wird, die Hauptfigur ist ein Haus. Ein einsames Haus in den Bergen von Massachusetts, „oben in den Wäldern“, das im Lauf von Jahrhunderten größer und stattlicher wird, dessen Kern, eine primitive Hütte aus dem 17. Jahrhundert, aber immer erhalten bleibt. Genauso im Mittelpunkt wie das Haus steht die  umgebende Natur, vom Kastanienwald über einen Wasserfall bis zur Gemeinen Eselsdistel, vom sagenumwobenen Berglöwen über das gezüchtete Merinoschaf bis zur Larve des Ulmensplintkäfers.
Das Haus und die Wälder verändern sich, aber sie bleiben. Die Menschen kommen und gehen. Ein aus einer puritanischen Siedlergemeinde geflohenes Liebespaar lässt sich als erstes auf der Lichtung im Wald nieder, baut eine Hütte. Später wohnen hier, unter anderem, ein ehemaliger englischer Soldat, der seine Leidenschaft für die Apfelzucht entdeckt, seine Zwillingstöchter, die ihr ganzes Leben mit einander und mit den Apfelbäumen verbringen, ein unglücklich verliebter Maler des 19. Jahrhunderts, ein reicher Knopffabrikant mit seiner Frau, die Geister hört, eine überforderte Witwe mit ihrem psychisch kranken Sohn, das Haus wird kurz zur Zuflucht für eine entlaufene Sklavin mit ihrem Baby, zur Falle für ihren Verfolger und zum letzten Forschungsobjekt eines Amateur-Historikers. Sie alle hinterlassen Spuren und bleiben mit den Nachkommenden in unterschwelliger  Verbindung. Sie gehen, aber sie vergehen nicht.

„…die eine große Lektion, die die Welt einen lehrt, ist Gleichgültigkeit“. Für Daniel Mason hat alles Leben gleiche Gültigkeit. Dem Paarungsglück von zwei Käfern schenkt er nicht weniger Aufmerksamkeit als menschlichen Liebesverhältnissen, den Flug einer Pilzspore empfindet er so begeistert mit wie den Forschungsdrang einer Literaturwissenschaftlerin oder eines Psychiaters.

In einem so weitläufigen wie detaillierten Epos fängt Mason den langen Atem der Natur ein und das, was am menschlichen Leben unvergänglich ist. 


Daniel Mason
Oben in den Wäldern
C.H.Beck
978-3-406-81381-8
EUR 26,80

 

Rauch und Schall

Rauch und Schall Rauch und Schall

Veröffentlicht 2023
von Charles Lewinsky bei Diogenes
ISBN: 978-3-257-07259-4

Goethe kommt zurück aus der Schweiz und hat zu Hause in Weimar plötzlich eine Schreibblockade. Da kann sein kleiner Sohn August noch so still sein und seine Frau Christiane noch so liebevoll um sein Wohl besorgt. Ausgerechnet sein Schwager Christian August Vulpius, ebenfalls Schriftsteller und ...

„Die Quelle der Inspiration, die, seit er sich erinnern konnte, für ihn immer gesprudelt hatte, … die ihn mit seinen Ideen so verschwenderisch hatte umgehen lassen wie König Midas mit seinem Gold, diese Quelle war anscheinend für immer versiegt, und mit König Midas hatte er nicht mehr gemeinsam als die Eselsohren, die sich nicht für alle Zeit würden unter einer phrygischen Mütze verstecken lassen.“

Goethe hat eine Schreibblockade. Von einer langen und strapaziösen Reise durch die Schweiz hat er sich Anstöße und Ideen erhofft, die sind aber ausgeblieben. Er ist unfähig, auch nur einen Vers in ein Stammbuch zu schreiben und fürchtet, „dass dieser Zustand ein dauernder werden könnte, … dass er die Fähigkeit, mit Worten Welten zu erschaffen, ein für allemal verloren haben könnte…“ Wie soll er jemals die Arbeit am „Faust“ wieder aufnehmen können? Und wie vor allem soll er innerhalb der nächsten drei Tage das von Herzog Carl August in Auftrag gegebene Festgedicht für den Geburtstag der Herzogin schreiben? Goethe bleibt nichts anderes übrig, als die Hilfe seines sich anbiedernden Schwagers Christian August Vulpius, den er als „Polygraph“, als „Scribifax“, als „Worthandwerker“ verachtet, anzunehmen.

Dichtung und Wahrheit gehen hier entspannt ineinander über. Der routinierte Erzähler Lewinsky fantasiert in Goethes von der Literaturwissenschaft sattsam erforschtes Leben charmant und frech eine anekdotische Episode hinein. Passend zum Thema Schreibblockade wird der schmale Plot breit und mit viel Liebe zum Detail ausgeführt, passend zum Thema Goethe ist die Sprache von unüblich gewordener Eleganz, ohne aber penetrant altertümelnd zu sein. Köstliche Dialoge, die plastischen Charaktere Goethe und Vulpius mit ihren konträren Ansprüchen an die Literatur, an sich selbst und ans Leben, zwischen ihnen die ungebildete, aber kluge, warmherzige Christiane sind das Fundament dieser leichtfüßigen, witzigen Erzählung.

Wer sich schon immer einmal über Goethe als Schwager amüsieren wollte, kommt endlich auf seine Rechnung.


Charles Lewinsky
Rauch und Schall
Diogenes
978-3-257-07259-4
EUR 25,70

 

Lichtspiel

Lichtspiel

Roman | "Ein Geniestreich von einem Roman, ein Buch, das bleiben wird." ARD Druckfrisch

Lichtspiel

Veröffentlicht 2023
von Daniel Kehlmann bei Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00387-6

Daniel Kehlmanns Roman über einen Filmregisseur im Dritten Reich, über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen. ...

„‘Aber finden Sie es nicht seltsam, Pabst, dass wir mitten im Weltuntergang so einen Film drehen? So ein – Kunstwerk?‘ … ‚Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.‘“


Die Hauptfigur in Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ spielt mit Licht und mit dem Feuer.

Der Österreicher Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) war von 1925 bis 1933 ein international anerkannter Regisseur bedeutender, ideologisch links ausgerichteter Filme.
Allgemein wird er „der linke Pabst“ genannt. Doch seine jahrelangen Bemühungen, ab 1933 außerhalb des nationalsozialistischen Deutschlands Fuß zu fassen, misslingen. Nachdem er während eines Besuchs bei seiner alten Mutter in der Steiermark vom Kriegsausbruch überrascht wird, kann er nicht mehr ausreisen. Jetzt bekommt er die lang entbehrten hochdotierten Filmprojekte, einige mit erstklassigen Schauspielern, angeboten: von Goebbels.

Pabsts Versuche, in dieser ausweglosen Situation künstlerischen Anspruch und moralische Integrität zu vereinen, sein Lavieren, sein Resignieren und sein Selbstbetrug sind Gegenstand teils rätselhafter, teils albtraumhaft grotesker, dann wieder umwerfend komischer Szenen, die in raschem Wechsel an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Personenkreisen angesiedelt sind, auch die Erzählperspektive ändert sich immer wieder. Das verdichtet die Komplexität des Romans, macht allerdings den Duktus unruhig.

Zwischen bis zur Karikatur übersteigerten nationalsozialistischen Bösewichten gestaltet Kehlmann seine Hauptfigur lebendig als einen in die Enge getriebenen genialen Menschen, der außer seiner Kunst keine Leidenschaft hat und in einem Pakt mit dem Bösen die letzte Möglichkeit sieht, weiterhin Kunstwerke schaffen zu können. Seine Tragik liegt darin, dass er seine Seele verkauft und trotzdem – oder gerade deswegen – kein Kunstwerk mehr schafft, das sich mit seinen früheren Arbeiten messen könnte.

Entlang der detailliert nachgezeichneten Biographie von G. W. Pabst geht Kehlmann der Frage nach, ob in einer Diktatur Kunst als Kompromiss zwischen Anpassung und Wahrhaftigkeit möglich und zu rechtfertigen ist.


Daniel Kehlmann
Lichtspiel
Rowohlt
978-3-498-00387-6
EUR 26,80

 

Melody

Melody Melody

Veröffentlicht 2023
von Martin Suter bei Diogenes
ISBN: 978-3-257-07234-1

In einer Villa am Zürichberg wohnt Alt-Nationalrat Dr. Stotz, umgeben von Porträts einer jungen Frau. Melody war einst seine Verlobte, doch kurz vor der Hochzeit – vor über 40 Jahren – ist sie verschwunden. Bis heute kommt Stotz nicht darüber hinweg. Davon erzählt er dem jungen Tom Elmer, ...

„In der Fiktion steckt oft mehr Wahrheit als in den Fakten.“

Der erste Job des Zürcher Juristen Tom Elmer ist fürstlich bezahlt, aber seltsam: Er soll den Nachlass des todkranken Dr. Peter Stotz ordnen und in dessen Sinn „gewichten“. Der ehemalige Parlamentarier und Geschäftsmann, vermögend und auch im hohen Alter noch wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch einflussreich, wünscht der Nachwelt von sich ein ganz bestimmtes Bild zu vermitteln. Zu diesem Zweck erzählt er Tom in vielen vertraulichen Gesprächen aus seinem Leben. Zentrales Thema der Erzählungen ist eine große Tragödie, über die er nie hinweggekommen ist: Vor 40 Jahren ist seine Verlobte Melody kurz vor der Hochzeit auf mysteriöse Weise spurlos verschwunden. Polizeiliche Untersuchungen haben so wenig zu Tage gefördert wie seine jahrelang auf eigene Faust betriebenen Nachforschungen. Ist Melody einem Ehrenmord durch ihre muslimische Familie zum Opfer gefallen? Ist sie untergetaucht, um einem solchen Ehrenmord zu entgehen? Ist sie vor der Hochzeit mit dem prominenten, schwerreichen, viel älteren Mann im letzten Moment davon gelaufen? Bis zu seinem Tod bleibt sie seine einzige große Liebe, bis zu seinem Tod gibt er die Hoffnung nicht auf, dass sie noch lebt und das Rätsel um ihr Verschwinden sich lösen lässt.

Nach seinem Tod aber drängt sich Tom bei der Arbeit am Nachlass eine ganz neue Lesart der von seinem Auftraggeber gelegten Spur auf.

Martin Suter ist ein Meister niveauvoller Unterhaltungsliteratur. Die überwiegend kurzen Szenen sind so lebendig wie Filmsequenzen, die Charaktere mit wenigen Strichen unverkennbar gezeichnet, die Dialoge funktionell und geistreich. Jedes Detail passt, jede Bewegung sitzt, jeder Ton stimmt.

Fast nebenbei wird auch die Frage nach dem Einfluss konsequenter Selbstinszenierung auf die öffentliche Meinung und sogar auf die Eigenwahrnehmung aufgeworfen und nach dem Preis, den diese Selbstinszenierung hat.

Ein raffiniert erzählter, spannender und amüsanter Roman, der bis zur letzten Zeile verblüffende Überraschungen bereithält.


Martin Suter
Melody
Diogenes
978-3-257-07234-1
EUR 26,80

 

Chor der Erinnyen

Chor der Erinnyen

Roman | Die Parallelgeschichte zum Bestseller »Die Kieferninseln«

Chor der Erinnyen

Veröffentlicht 2023
von Marion Poschmann bei Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-43141-2

Ihr Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne sich näher zu erklären. Eine Freundin aus Kindertagen taucht auf, und ihre sonst so zurückhaltende Mutter übt plötzlich eine geheimnisvolle Macht aus. Mathilda, die Nüchterne, die distanzierte Studienrätin für Mathematik und ...

„Dem Wind folgen, Einsamkeit aufsuchen, auch im Gedränge, zwischen den Menschen. Herbstlaub betrachten. Sich selbst erkennen im Fallen der Blätter.“

Die hochbegabte Mathilda will nur eines: Unauffällig und mit allen in Frieden leben. Sie unterrichtet Mathematik und Musik an einem deutschen Gymnasium, ist korrekt und pflichtbewusst, angemessen verheiratet, wohnt in einem gediegenen Haus in guter Lage. Die Beziehung zu ihren alten Eltern pflegt sie genauso gewissenhaft wie die zu ihren wenigen Jugendfreundinnen.

Dieser disziplinierten, nüchtern wirkenden Frau passiert es, dass sie vor ihrer Haustür ihre Schulfreundin Birte stehen sieht, von der sie schon seit Jahren nichts mehr gehört hat, doch „je näher sie kam, desto mehr verlor Birte an Schärfe. Als sie selbst den Eingang erreichte, war Birte verschwunden.“ Am nächsten Morgen aber steht Birte tatsächlich vor ihrer Haustür, erzwingt Einlass, ins Haus und in Mathildas Leben. Umgekehrt verhält es sich mit Mathildas Mann, der von einem Moment auf den anderen aus dem gemeinsamen Haus und Leben verschwunden ist, ohne dass Mathilda wüsste, wohin und warum. Wieder anders geartet, aber von ähnlich destabilisierender Wirkung das Verhältnis zu ihrer Mutter, die selbst besondere Begabungen hat und zu außergewöhnlichen Wahrnehmungen fähig ist, aber in einem nicht adäquaten Leben steckt.

Dicht, feinsinnig und lyrisch erzählt Marion Poschmann vom „Pax de deux mit der Ungreifbarkeit“, von Mathildas mühevollem Balancieren an heiklen Grenzen: an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Zivilisation und Natur, zwischen Struktur und Auflösung, zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem nach Einsamkeit, zwischen Anpassung und Ausbruch, zwischen Leben und Tod.  Dass die Grenzen ihrer eigenen Sphäre hingegen unbekümmert missachtet werden, erfährt Mathilda in alltäglichen, sie verstörenden Begegnungen, die von der Autorin mit hinreißender Genauigkeit protokolliert werden.

Die unheimliche, dabei sehr poetische Geschichte einer sensiblen Mathematikerin, die vom Irrationalen in sich überwältigt wird und ihren Halt in der rationalen Welt verliert.


Marion Poschmann
Chor der Erinnyen
Suhrkamp
978-3-518-43141-2
EUR 23,70

 

0 1 2

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Roman - (Null Eins Zwei)

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Veröffentlicht 2023
von Daniel Wisser bei Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87708-2

Der neue Roman von Daniel Wisser: »eine der spannendsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur« (Süddeutsche Zeitung) Leichtfüßig und lakonisch erzählt Daniel Wisser von einem Schelm inmitten der großen Krisen der Gegenwart. Erik ...

„Es sollte nur so aussehen, als wäre ich an einer Krebserkrankung gestorben. In Wahrheit wurde ich ermordet.“

Erik Montelius, Programmierer und Erfinder des ternären Computers, ersteht von den Toten auf. 1991 ist er 39jährig an Krebs gestorben und kryokonserviert worden, 2021 erwacht er aufgetaut, operiert und noch immer 39jährig in einem Wiener Spital zu neuem Leben. Nicht alles ist neu in diesem Leben: „Trinkt man denn immer noch aus Plastikbechern?“ Und: „Überall lange Autokolonnen und Stau! Heute gibt es mehr Autos denn je! Alle fahren noch immer mit Diesel und Benzin.“ Auch sein Krebsleiden ist noch da, seine Lebenserwartung gering. Erst recht nicht neu ist seine Frau, sie ist nun über 60. Neu ist allerdings, dass sie seit 29 Jahren mit seinem Geschäftspartner verheiratet ist, der mit dem Verkauf des Prototyps des von Erik erfundenen Computers und des Patents darauf reich geworden ist. Neu ist, dass die Menschen Masken in „Schnabelform wie eine venezianische Karnevalsmaske“ tragen, zur Begrüßung die Fäuste aneinander stoßen und pausenlos kleine schwarze Konsolen streicheln, mit denen sie auch telefonieren. Und: „Warum geht man eigentlich mit Skistöcken spazieren?“

Beim Versuch, im neuen Leben Fuß zu fassen, stellt Erik fest, dass sein einziges noch vorhandenes Personaldokument sein Totenschein ist,  dass es ihn juristisch also gar nicht gibt, und dass seine Existenz davon abhängt, ob und wie die Medien über den „Eismann“ berichten. „Wenn du in der Öffentlichkeit bist, bist du geschützt.“ Köstlich das Fernsehinterview „in einer populären Nachrichtensendung“ mit einem penetrant inquisitorischen Moderator, der „im ganzen Land bekannt“ und „eigentlich politischer Journalist“ ist! Ebenfalls köstlich Eriks Erstkontakt mit Errungenschaften wie Online-Handel, Viagra, Hafermilch, Home-Office und Laubbläser. Denn auch in der größten Verwirrung ist Erik nie um einen passenden Kalauer verlegen.

In einer skurrilen Familien- und  Gesellschaftssatire prallen die Welt vor 1990 und die Welt nach 2020 aufeinander.


Daniel Wisser
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Luchterhand
978-3-630-87708-2
EUR 25,70

 

Marschlande

Marschlande

Roman | Nominiert für das Lieblingsbuch der Unabhängigen Buchhandlungen

Marschlande

Veröffentlicht 2023
von Jarka Kubsova bei S. FISCHER
ISBN: 978-3-10-397496-6

Zwei Frauen, die Jahrhunderte trennen – der Wunsch nach Selbstbestimmung, der sie verbindet »Marschlande« ist der neue Roman der Bestseller-Autorin Jarka Kubsova Im Hamburger ...

„Sie fielen aus der Norm, waren aufständisch, nicht regelkonform, haben etwas Wichtiges geleistet, für etwas gekämpft oder gegen etwas. Viele vergeblich. Viele wurden ermordet, sind in Psychiatrien hingesiecht, erkrankt am erlittenen Unglück.“

Die hamburgischen Marschlande, nach denen der Roman benannt ist, sind Schauplatz zweier Frauenschicksale, die Jarka Kubsova  über einen Zeitraum von fast 450 Jahren hinweg miteinander verknüpft. Das eine ist die auf historischen Fakten beruhende Geschichte der Bäuerin Abelke Bleken, 1583 als Hexe verbrannt, das andere die fiktionale Geschichte der in der Gegenwart lebenden Britta Stoever, die nach ihrer Übersiedlung in die Marschlande auf Abelke Bleken aufmerksam wird. Bei ihren Nachforschungen findet sie Parallelen zwischen der letztlich tödlichen Ausgrenzung von selbständigen, nicht angepassten Frauen im 16. Jahrhundert und Mechanismen, die noch heute dafür sorgen, dass Frauen unselbständig und angepasst bleiben.

Vor dem Hintergrund  grandioser Landschaftsbilder setzt Kubsova die beklemmende Geschichte der tüchtigen, erfolgreichen, selbstbewussten Abelke Bleken ab 1570 in Szene. Abelke traut es sich zu, unverheiratet einen großen Bauernhof zu führen, meistert die harten Anforderungen des bäuerlichen Alltags, Naturkatastrophen und zunehmende Einsamkeit, wird aber ein Opfer von Willkür, Gier, Korruption, Missgunst und unvorstellbarer systemischer Grausamkeit. Schlüssig interpretiert Kubsova  Abelke Blekens Enteignung als einen Fall des Bauernlegens und die Hexenverfolgung unter anderem als Instrument der Domestizierung von Frauen und der Zerstörung  weiblicher Netzwerke.

Für den in die Gegenwart gespannten Bogen fielen einem allerdings weltweit geeignetere Pendants zur Hexenverfolgung ein als die Protagonistin Britta Stoever, eine Hamburger Akademikerin, die in ihrem großen neuen Haus nicht recht heimisch wird und als Mutter nur halb berufstätig sein kann.  Ihr Schicksal wirkt nicht parallel, sondern erfreulich kontrastierend zu dem der Abelke Bleken.

Ein aufwühlendes literarisches Denkmal für eine als Hexe ermordete, starke, mutige Frau des 16. Jahrhunderts – stellvertretend für unzählige bis heute auf die eine oder andere Weise diffamierte und ausgeschaltete Frauen.


Jarka Kubsova
Marschlande
S. FISCHER
978-3-10-397496-6
EUR 24,70

 

Kajzer

Kajzer

Mein Familienerbe und das Abenteuer der Erinnerung

Kajzer

Veröffentlicht 2023
von Menachem Kaiser bei Zsolnay, Paul, Houghton Mifflin Harcourt
ISBN: 978-3-552-07339-5

Ein Memoir voller „Herz, Humor und Intelligenz“ (Joshua Cohen) – Menachem Kaiser begibt sich auf Schatzsuche und findet sein Familienerbe. Die Geschichte seiner eigenen Familie hatte den in Toronto geborenen Menachem Kaiser nicht sonderlich interessiert, ehe er nach Polen aufbrach, ins ...

„Die geläufigste Form nichtmaterieller Erbschaft ist Sentimentalität. Dabei ist das Objekt weniger relevant als sein spirituelles Gewicht.“

Menachem Kaisers Großvater väterlicherseits ist lang vor seiner Geburt gestorben. Viel weiß Menachem nicht über ihn. Eigentlich nur, dass er in seiner Jugend als Einziger seiner Familie ein polnisches Konzentrationslager überlebt hat, nach dem Krieg in Deutschland geheiratet hat und nach Amerika ausgewandert ist, wo seine drei Kinder mit ihren Familien immer noch als gläubige Juden leben.
Als Menachem Kaiser 2010 das erste Mal zufällig nach Polen kommt und den Heimatort seines Großvaters besuchen will, erfährt er, dass diesem in der schlesischen Stadt Sosnowiec ein großes Haus gehört hat. Nach dem Krieg habe der Großvater erfolglos ein Restitutionsverfahren angestrengt. Nun beginnt Menachem Kaiser mit jahrelangen Recherchen und setzt, stellvertretend für die ganze Familie, ab 2016 alles daran, in einem neuen Verfahren dieses Haus zugesprochen zu bekommen. Schon bald aber geht es ihm mehr als um die Restituierung des Hauses, um die Rekonstruktion seiner Familiengeschichte.
Bei seinen wiederholten Aufenthalten in Schlesien entdeckt Kaiser einen ihm bis dahin unbekannten Zweig der Familie, er vertieft sich in das abenteuerliche und erschütternde Leben eines Großonkels, dem die Flucht aus einem Konzentrationslager gelungen ist und der darüber ein Buch geschrieben hat, er sucht die Ruinen polnischer Konzentrationslager und des Projektes „Riese“ auf und macht Bekanntschaft mit den sogenannten Schatzsuchern, die krause Mythen über die Nazis teils erforschen, teils verbreiten.
Ausdrücklich nennt Kaiser sein Buch nicht „Roman“, sondern „Sachbuch“ und „Erinnerungsbuch“. Er stellt und erfüllt keinen literarischen Anspruch. Durch seine persönliche Involviertheit, die unmittelbare, anschauliche und packende Erzählweise und die feinsinnigen Überlegungen darüber wie Erinnerung, Memoiren, Familiengeschichte, Mythos und Tatsachen sich zu einander verhalten, ist „Kajzer“ aber viel mehr als ein Sachbuch.

Die spannende, berührende und informative Suche des Autors nach den Spuren seiner jüdischen Vorfahren in Schlesien.


Menachem Kaiser
Kajzer
Zsolnay
978-3-552-07339-5
EUR 28,80


 

Der heutige Tag

Der heutige Tag

Ein Stundenbuch der Liebe | »Ein Buch, in das man sich verlieben kann.« Denis Scheck

Der heutige Tag

Veröffentlicht 2023
von Helga Schubert bei dtv Verlagsgesellschaft
ISBN: 978-3-423-28319-9

»Vielleicht ist einer von uns morgen schon nicht mehr da.« Über fünfzig Jahre lang teilen sie ihr Leben. Doch nun ist der Mann schwer krank. Lange schon wird er palliativ umsorgt; und so wird der Radius des Paares immer ...

 „Die eigene Hilflosigkeit anerkennen, annehmen und trotzdem zuversichtlich sein, dass Hilfe kommt.“

Helga Schubert, die 2020 als Achtzigjährige den Bachmannpreis gewonnen hat, hat nun ein Buch über das Lebensende geschrieben: über das zu Ende gehende Leben ihres 95 Jahre alten Mannes, über die zu bis zum Ende gehende Gemeinsamkeit, die sie und ihren Mann seit mehr als einem halben Jahrhundert verbindet. „Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.“ Erwartungen und Aufforderungen ihrer Umgebung zum Trotz weigert sich die Autorin, ihren schwer kranken, bettlägerigen und dementen Mann, den sie im Buch Derden nennt („Der, den ich liebe“), in einem Heim unterzubringen. Sie besteht darauf, ihn zu Hause zu pflegen, unterstützt lediglich von einem mobilen Pflegedienst und einem ehrenamtlichen Hospizbesuchsdienst. In kurzen, schlichten, aber eindringlichen Bildern beschreibt sie ihr Leben zwischen Pflegebett und Rollstuhl ihres Mannes einerseits und ihrem Laptop andererseits, an dem sie, sobald er schläft, arbeitet und mit der Außenwelt Kontakt hält.  Es ist ein für eine 83-jährige Frau sowohl körperlich als auch mental ungemein anstrengendes Leben, ein Leben, das sie aber nie in Frage stellt. Auch in der von der Demenz veränderten Persönlichkeit sieht und liebt Schubert unbeirrbar ihren Lebenspartner. Die Szenen aus dem gegenwärtigen Alltag wechseln ab mit Episoden aus der gemeinsamen Vergangenheit, die lange von den Schrecken des DDR-Regimes überschattet war. Noch mehr als diese Erinnerungen aber ist es die tiefe Religiosität der Protestantin Schubert, aus der sich ihre Vorstellung von der sakrosankten Würde jedes Menschen bis zuletzt, ihre Zuversicht und ihre Lebensfreude speisen. So erfährt Schubert zwischen Überforderung, Mutlosigkeit und Erschöpfung immer wieder Geborgenheit und  Harmonie: „Ich war glücklich in diesem Moment mit ihm, und die Zeit dehnte sich, und ich hatte keine Angst vor dem Morgen.“

Eine nichts beschönigende, aber überzeugend positive, respektvolle Auseinandersetzung mit dem Verfall und dem Sterben eines geliebten Menschen.


Helga Schubert
Der heutige Tag
dtv
978-3-423-28319-9
EUR 24,70

 

Aufklärung

Aufklärung

Ein Roman | Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 | »Angela Steidele bringt die Epoche der Aufklärung zum Leuchten.« Denis Scheck

Aufklärung

Veröffentlicht 2022
von Angela Steidele bei Insel Verlag
ISBN: 978-3-458-64340-1

Leipzig im 18. Jahrhundert, in seiner glänzendsten Zeit. Von den Messen tragen die Händler nicht nur Waren, sondern auch Ideen nach ganz Europa. Johann Sebastian Bach vermisst das Universum in Tönen, unterstützt von seiner Frau, der Kammersängerin Anna Magdalena, ...

Am glücklichsten greift der Dichter also zu historischen Persönlichkeiten, über die man wenig weiß: Da kann er in die Lücken der Überlieferung hineindichten.

Diese Johann Christoph Gottsched in den Mund gelegte Empfehlung beherzigt Angela Steidele, wenn sie ihren Roman aus der Ich-Perspektive von Catharina Dorothea Bach, der ältesten Tochter Johann Sebastian Bachs, erzählen lässt. Tatsächlich liegen über diese Bach-Tochter so gut wie keine Daten vor, umso ungehemmter kann Steidele sie zu allen Personen in Beziehung setzen, die zwischen 1734 und 1763 in Leipzig das deutsche Geistesleben vorangetrieben haben.
Aus Dorothea Bachs Sicht verfolgen wir nicht nur Entstehung und Uraufführung des Weihnachtsoratoriums und einige andere Episoden der Bach-Vita, sondern große Teile der deutschen Aufklärung. Durch ihren Vater, mehr noch aber durch ihre enge (auch homoerotisch gefärbte) Freundschaft mit der Übersetzerin und Schriftstellerin Luise Gottsched kommt sie in Berührung mit deren Mann, dem charismatischen, selbstherrlichen Sprach- und Literaturwissenschaftler und Universitätsprofessor Johann Christoph Gottsched, mit zahlreichen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Musikern aus seinem Leipziger Umkreis, mit weit über ihre Zeit hinaus selbstbestimmt agierenden Frauen, sogar noch mit Lessing und dem jungen Goethe. Sie alle werden von Dorothea Bach, die zwar als Musikantentochter keine höhere Bildung erhalten hat, aber klug und vielseitig ist, beobachtet und lebhaft, mitunter köstlich süffisant charakterisiert. Dass neben den historischen Geistesgrößen mehrere literarische Namen wie Serenus Zeitblom als Hausmeister und ein Jahrmarktsgaukler Robinson Kruse mit seinem Gehilfen Freitag auftauchen, dass ein Herr Stephan Jobst maschinelle Rechner prophezeit und ein Herr Laurentius Gugl kostenlosen Zugang zum Wissen fordert, dass in Leipzig 1735 „gezwitschert“ wird und die fortschrittlichen Damen Bach, Gottsched und Ziegler Wörter wie  „geschlechtergerecht“, „Bekanntinnen“, „Verwandtinnen“ und „Bombenwerferin“ verwenden, weist, freilich etwas gewaltsam und auf Kosten der Konsistenz, auf die ungebrochene Aktualität aufklärerischer Anliegen hin.

Virtuoses Crossover von umfassend recherchierter Geistesgeschichte der Aufklärung und phantasievoller, zeitliche und räumliche Grenzen überspringender Fiktion.

Angela Steidele
Aufklärung
Insel Verlag
978-3-458-64340-1

EUR 25,70

 

Das Café ohne Namen

Das Café ohne Namen

Roman | Der neue Roman des Bestsellerautors von "Ein ganzes Leben"

Das Café ohne Namen

Veröffentlicht 2023
von Robert Seethaler bei Claassen
ISBN: 978-3-546-10032-8

Ein Café und seine Menschen. Ein Mann, der seiner Sehnsucht folgt. Robert Seethalers neuer Roman. Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch ...

„Die Welt dreht sich immer schneller, da kann es schon passieren, dass es einige von denen, deren Leben nicht schwer genug wiegt, aus der Bahn wirft.“

Wien auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders. 1966 herrschen Zuversicht und Fortschrittsglaube. Auch der 31-jährige Gelegenheitsarbeiter Robert Simon ist optimistisch und erfüllt sich einen lang gehegten Wunsch: Er pachtet ein Beisel am Karmelitermarkt und bewirtschaftet es als einfaches „Café“.
In der für ihn typischen minimalistischen, geradlinigen Erzählweise schildert Seethaler Robert Simons arbeitsintensives, unspektakuläres Leben als Gastwirt in den folgenden 10 Jahren. In sein namenlos bleibendes „Café“ verschlägt es Markthändler, Angestellte, verwitwete Hausfrauen, Schichtarbeiter, Näherinnen, einen Ringer vom Heumarkt, einen erfolglosen Maler, eine Gelegenheitsprostituierte, Alkoholiker, Obdachlose: alle bedient Simon mit wortkarger, aber respektvoller Freundlichkeit, in einige der sehr unterschiedlichen Leben lässt der Autor uns einen oder mehrere Blicke werfen. Tragödien werden dabei mit derselben knappen Sachlichkeit berichtet wie das immer nur kurzlebige Glück und der nach außen hin ereignisarme Alltag.
Bis ins Detail anschaulich nachgezeichnet ist das noch ärmliche Karmeliterviertel. Für Seethalers dort wohnende oder arbeitende Menschen ist Simons „Café“ eine rar gewordene Möglichkeit, Gemeinschaft zu erleben. Tragfähige familiäre Beziehungen haben Seethalers Figuren kaum. Gemeinschaftsstiftendes wie Religion, kulturelle, sportliche oder politische Betätigung gibt es für sie auch nicht. Freundschaft und Liebe sind selten und stehen unter Druck. Diese Menschen haben, während Wien größer, moderner und wohlhabender wird, keine Perspektive für die Zukunft, sind von Einsamkeit und Verarmung bedroht.
Als Simons Pachtvertrag 1976 gekündigt wird und das „Café“ schließt, verlieren sie, allen voran Simon selbst, ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Seethaler malt mit einfachsten Mitteln meisterhafte Stimmungsbilder vom Wien der 1960er und 1970er Jahre, sieht dieses Wien, dessen Eigentümlichkeit mit dem Wirtschaftswachstum schwindet, aber nüchtern. In krassen Gegensatz zu der erstarkenden Volkswirtschaft stellt er den Existenzkampf des Einzelnen in einer immer schneller, lauter und anonym werdenden Umgebung.


Robert Seethaler
Das Café ohne Namen
Claassen
978-3-546-10032-8
EUR 24,70

 

Wir hätten uns alles gesagt

Wir hätten uns alles gesagt Wir hätten uns alles gesagt

Veröffentlicht 2023
von Judith Hermann bei S. FISCHER
ISBN: 978-3-10-397510-9

 »Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.« Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und ...

 „Das ist das Zentrum der Geschichte: das Nichtstattfindende, Fehlende. Das Versäumnis.“

Wieviel vom Leben eines Autors fließt in sein Werk ein? Was bedeutet autobiographisch? Und wie fällt die Entscheidung für den berühmten „ersten Satz“ einer Erzählung?
Solchen und ähnlichen Fragen hat Judith Hermann sich im Rahmen der renommierten „Frankfurter Poetikvorlesungen“ gestellt. Nun sind ihre Vorträge als Buch erschienen. In drei miteinander lose verbundenen Teilen fühlt sie den Einflüssen nach, die ihr Leben, insbesondere ihre Kindheit, auf ihr Schreiben hat.
Im ersten Teil rahmt eine humorvoll erzählte zufällige Begegnung  der Autorin mit ihrem früheren Psychoanalytiker Erinnerungen an eine Freundin und einen verstorbenen Freund aus ihren Jugend- und frühen Erwachsenenjahren ein.
Der zweite Teil schildert ungemein poetisch, verträumt und zugleich kraftvoll Hermanns alles andere als idyllische Kindheit in den 1970er Jahren in Berlin–Neukölln, ihr Aufwachsen zwischen dem intellektuellen, psychisch kranken Vater, der Mutter, die mit ihrer Arbeit in einem Blumengeschäft die Familie erhält und der unter körperlichen Beeinträchtigungen leidenden, schrulligen, aber liebevollen und starken russischen Großmutter, die für das Kind die wichtigste Bezugsperson ist. Ihr kleines Haus an der Nordsee, in dem Hermann auch als Erwachsene noch ihre Sommer verbringt, bleibt ein magischer Ort für sie.
Im letzten Teil erzählt sie von ihrem Landleben in den Pandemiejahren, den auf einen einzigen Freund beschränkten sozialen Kontakten, von enttäuschenden Treffen mit ihren alt gewordenen Eltern.
All diese autobiographischen Streiflichter setzt die Autorin in Beziehung zu ihrem literarischen Schaffen. Wobei dem Leser klar wird, wie fragwürdig der Begriff „autobiographisch“ ist, denn: „Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein unbetretbarer Ort.“ Oder: „Schreiben heißt Zeigen und es heißt Verbergen“.


Anhand von eindringlich vermittelten, atmosphärisch dichten Erinnerungen analysiert Judith Hermann das Verhältnis von Erlebtem und Erzähltem in ihrem Werk. Eine literaturwissenschaftlich wie psychologisch aufschlussreiche Erzählung vom Erzählen.

Judith Herrmann
Wir hätten uns alles gesagt
S. FISCHER
978-3-10-397510-9
EUR 23,70

 

Wovon wir leben

Wovon wir leben

"Erhellend, überzeugend und überaus lesenswert." SRF

Wovon wir leben

Veröffentlicht 2023
von Birgit Birnbacher bei Zsolnay, Paul
ISBN: 978-3-552-07335-7

Ein literarischer Roman über die brennenden Themen der Gegenwart: Das neue Buch der Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher Birgit Birnbacher, der Meisterin der „unpathetischen Empathie“ (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau), gelingt es, die Frage, wie und wovon wir leben wollen, in ...

„…was wünsche ich mir eigentlich, außer ganz zu genesen, atmen zu können und Luft zu kriegen, die Angst vor dem Ersticken zu verlieren. Den Körper und das Konto gleichermaßen zu erhalten, da wie dort ohne größere Sorgen zu überleben.“

Die Ich-Erzählerin Julia Noch steht an einem Wendepunkt ihres Lebens: Ihr Asthma hat ein bedenkliches Stadium erreicht, und sie hat ihren Arbeitsplatz als Krankenschwester verloren. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als in ihr Elternhaus im Pongau zurückzukehren, in der Hoffnung, bis auf Weiteres von den Eltern versorgt zu werden. Die Situation, die sie in ihrem Heimatdorf vorfindet, macht diese Hoffnung freilich zunichte: Die Mutter ist ausgezogen, der stark gealterte Vater, ein Hypochonder, erwartet, dass die Tochter ihm nun den Haushalt führt und seine Wehwehchen ernst nimmt. Mit der Rückkehr in ihr fremdgewordenes Elternhaus und in ein ausgestorbenes Dorf droht die Rückkehr in die Frauen hier vorgezeichnete Rolle. Hilfe in ihrer Außenseiterposition bekommt sie von anderen Außenseitern, einem Patienten des Luftkurzentrums, den die Erzählerin nur „den Städter“ nennt – auch nachdem aus der Freundschaft der beiden Liebe geworden ist –, von ihrer ehemaligen Schulfreundin Bea, die sich allen stereotypen Erwartungen entzogen hat, und schließlich von der Mutter, die ihr Leben spät, aber erfolgreich selbst in die Hand genommen hat.

Unaufgeregt, lakonisch und gerade dadurch bewegend authentisch lässt Birnbacher ihre Heldin den Kontrast zwischen ihren elementaren Bedürfnissen und dem, was ihre Familie und ihr Heimatdorf (nicht) zu bieten haben, nachzeichnen. Ausgerechnet in dieser kargen, tristen, beengenden Welt, zwischen Arbeitslosen, Alkoholikern und anderen an den Rand Gedrängten muss die arbeitslose Asthmatikerin lernen, sich die lebensnotwendige Atemluft zu verschaffen, einen Arbeitsplatz zu finden – und vielleicht doch auch etwas, was übers physische Überleben hinausgeht.

Mit scharfem Blick und zielsicherem Humor, dabei immer sensibel, geht die Bachmann-Preisträgerin von 2019 der Frage nach den Bedingungen des Lebens nach.

Birgit Birnbacher
Wovon wir leben
Zsolnay
978-3-552-07335-7
EUR 24,70

 

Zwischen Welten

Zwischen Welten

Roman

Zwischen Welten

Veröffentlicht 2023
von Juli Zeh, Simon Urban bei Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87741-9

»Ein großer Gesellschaftsroman. Passt perfekt in unsere Zeit.« Christhard Läpple, ZDF Heute Journal Zwanzig Jahre sind vergangen: Als sich Stefan und Theresa zufällig in Hamburg über den Weg laufen, endet ihr erstes Wiedersehen in einem ...

„Wenn öffentliche Kommunikation der Treibstoff der Polarisierung ist, wird man die fortschreitende Polarisierung nicht mit öffentlicher Kommunikation stoppen können.“

Vor 20 Jahren haben Stefan und Theresa als Germanistikstudenten eine WG gebildet, haben den Alltag, literarische Vorlieben und politische Überzeugungen geteilt, waren beste Freunde. Als Theresa das Studium abbrach, um den Bauernhof ihres verstorbenen Vaters in Brandenburg weiterzuführen, riss der Kontakt ab. Nun sind sie einander zufällig begegnet und möchten ihre alte Freundschaft wiederbeleben. In E-Mails und WhatsApp-Nachrichten erzählen sie einander von Jänner bis Oktober 2022 aus ihrem Alltag, tauschen sich über ihre Lebenserfahrungen und konträren politischen Ansichten aus, diskutieren und streiten, beleidigen einander und versöhnen sich, kommen einander näher als je zuvor und verlieren einander endgültig.
Die Welten, die in diesem digitalen Dialog aufeinanderprallen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Theresa leistet buchstäblich Tag und Nacht Schwerarbeit, kämpft unter immer schwierigeren klimatischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen ums Überleben ihres landwirtschaftlichen Betriebs. Stefan, erfolgreicher Kulturjournalist, engagiert sich in Hamburgs größter Wochenzeitschrift für Genderpolitik und Klimaschutz, gegen Minderheitendiskriminierung,  kulturelle Aneignung und Rechtspopulismus. Der geistreiche, schlagfertige Mailwechsel lässt beide Welten gleichermaßen zu Wort kommen, billigt beiden entgegengesetzten Standpunkten überzeugende Argumente zu. Die sich zuspitzende, in unterschiedlicher Weise eskalierende Entwicklung, die ihr jeweils berufliches und privates Leben in gerade diesem Dreivierteljahr nimmt, zeigt freilich, wie aussichtslos es ist, wenn ein Einzelner versucht, sich einen Platz zwischen den – ideologisch vereinnahmten – Welten zu suchen. „Grauzonen werden trocken gelegt, Ambivalenzen ausradiert.“
Scharfsichtig, unbeirrbar und sarkastisch wird der radikale Gesinnungsterror politischer Agitation entlarvt, der über die sozialen Medien mit Leaks und Lügen die öffentliche Meinung bildet, Mehrheiten mobilisiert, mit Shitstorms Tatsachen schafft – „Rufmord als Event“ – und so die Demokratie unterwandert. „Demokratie ist nicht, wenn der mit den meisten Followern die Regeln macht. Im Gegenteil.“

In einer atemberaubenden, brillant geschriebenen Bestandsaufnahme halten die Autoren der digitalen Hassgesellschaft den Spiegel vor.

Juli Zeh, Simon Urban
Zwischen Welten
Luchterhand
978-3-630-87741-9
EUR 24,70

 

Das glückliche Geheimnis

Das glückliche Geheimnis Das glückliche Geheimnis

Veröffentlicht 2023
von Arno Geiger bei Hanser, Carl
ISBN: 978-3-446-27617-8

Von Anläufen und Enttäuschungen, vom Finden und Wegwerfen. Und vom Glück des Gelingens. Das neue Buch von Arno Geiger Frühmorgens bricht ein junger Mann mit dem Fahrrad in die Straßen der Stadt auf. Was er dort tut, bleibt sein Geheimnis. Zerschunden und müde kehrt er zurück. Und oft ist er ...

„Wegwerfen ist eine Kulturtechnik, die zum Führen eines Lebens dazugehört wie die Fähigkeit zu Ja und Nein.“

Arno Geigers glückliches Geheimnis, das er ohne Umschweife gleich im 2. Satz der Erzählung verrät, besteht darin, dass er über Jahrzehnte systematisch Altpapiertonnen nach für ihn Brauchbarem durchwühlt hat. Das waren einerseits Bücher und Postkarten, die er aufgrund ihres Wertes verkaufen konnte, andererseits Briefe und Tagebücher, aus deren Lektüre er Anregungen für seine Romane schöpfte. Aus Geldnot begonnen, wurden ihm die wöchentlichen „Runden“, wie er seine Streifzüge nennt, nach und nach zu einem wichtigen und in vieler Hinsicht bereichernden Ritual.
Um dieses Ritual herum baut Geiger seine Lebensgeschichte seit seinen Zwanzigern auf. Er erzählt vom mühevollen Weg zu Erfolg und Anerkennung als Schriftsteller, von der Entstehung seiner Romane, von seinen wechselvollen Liebesbeziehungen, deren wechselvollste nach vielen Jahren in eine glückliche Ehe mündete, seinen Auslandsaufenthalten und sehr berührend von seinen alternden Eltern, ihrer zunehmenden Hinfälligkeit und seiner Sorge um sie – ein teilweise aus dem Roman „Der alte König in seinem Exil“ bekanntes Motiv.
Die sich als roter Faden durch den Text ziehende Beschäftigung mit Altpapier führt Geiger zu interessanten Überlegungen über das Sammeln, Aufbewahren, Entsorgen von Gegenständen, über Abfall, sein Weiterbestehen in anderer Form und zu anderem Zweck, über Verwandlung, Kreisläufe, Fortschritt und das Ende von Dingen und Mensch.
Von den anonymen Briefen und Tagebüchern aus den Altpapier-Containern ausgehend zieht er Grenzen zwischen privatem und professionellem Schreiben und äußert schließlich Zweifel an der Möglichkeit, ein Leben lang Literatur produzieren zu können: „Wer das Schreiben zum Beruf macht, verliert die Frage, ob er etwas zu sagen hat, leicht aus den Augen“. Ob diese Erkenntnis der Grund dafür ist, dass Geiger schon in relativ jungen Jahren seine Autobiographie vorlegt? Was könnte danach kommen?

Eine unprätentiöse Autobiographie, eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Beruf des Schriftstellers.

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis
Hanser Literaturverlage
978-3-446-27617-8
EUR 25,70

 

Die Erweiterung

Die Erweiterung

Roman | Die Fortsetzung des mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans »Die Hauptstadt«

Die Erweiterung

Veröffentlicht 2022
von Robert Menasse bei Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-43080-4

Zwei Brüder, nicht leibliche Brüder, sondern „Blutsbrüder“, verbunden durch einen Schwur, den sie im polnischen Untergrundkampf gegen das kommunistische Regime geleistet haben, gehen nach dessen Zusammenbruch getrennte Wege. Der eine, Mateusz, steigt in höchste Ämter auf und ...

„Die Europäer interessieren sich für Märkte oder für Symbole, für Symbole interessieren sie sich ganz verzweifelt, weil sie keine mehr haben, sie nennen es Narrative.“

Reich an vielschichtigen Narrativen ist auch Robert  Menasses neuer Roman.
Albanien will in die EU, wird von der EU aber, obwohl es geforderte Reformen durchgeführt hat und über attraktive Rohstoffe verfügt, hingehalten. Der skrupellose Ministerpräsident, der mit allen Wassern des Populismus gewaschen ist, inszeniert daher einen aufsehenerregenden Schachzug, den sich sein „Hofpoet“ und Berater einfallen hat lassen. Symbol für seine Machtphantasien ist der Helm des albanischen Nationalhelden Skanderbeg, der in Wien in der Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums liegt und gerade jetzt Gegenstand eines Kunstdiebstahls wird. Mit seiner Aufklärung ist der Kriminalbeamte Franz Starek befasst. Der ist verwandt und befreundet mit Karl Auer, der sich als EU-Beamter in Brüssel um den EU-Beitritt Albaniens bemüht – nicht nur aus politischen, sondern auch aus höchst privaten Gründen. Sein aus Polen stammender Kollege Adam Prawdower zieht mit ihm an einem Strang und befindet sich damit in Opposition zu Polen. Der zynische polnische Ministerpräsident ist ein ehemaliger Jugendfreund Adams, sie haben gemeinsam im Untergrund gegen das kommunistische Regime gekämpft. Als Ministerpräsident fährt er sowohl europa- als auch innenpolitisch einen reaktionären Kurs und verrät damit nicht nur die Ideale ihrer Jugend, sondern auch ihre Freundschaft.
Das sind nur einzelne wenige Fäden aus einem dichten, kunstvoll geflochtenen Netz von politischen und privaten Beziehungen. Jede Person hat ihr anschaulich wiedergegebenes Gesicht, ihre kuriose Geschichte, die immer auch ein Stück europäische Geschichte ist. Menasse schöpft aus gigantischem politischen und historischen Wissen und aus reicher Menschenkenntnis. Ob es um das in Albanien praktizierte mittelalterliche Gewohnheitsrecht, die Rolle der Balkan-Mafia, Skurrilitäten aus dem österreichischen Beamtenwesen, politische Intrigen in Warschau, Tirana oder Brüssel oder um eine Liebesgeschichte geht, Menasse erzählt alles fundiert, humorvoll und virtuos.

Ein ganz großer europäischer Roman!

Robert Menasse
Die Erweiterung
Suhrkamp
978-3-518-43080-4
EUR 28,80

 

Verbrenn all meine Briefe

Verbrenn all meine Briefe

Roman | »Sein Buch ist kein Krimi und könnte doch aufregender nicht sein.« Christine Westermann

Verbrenn all meine Briefe

Veröffentlicht 2022
von Alex Schulman bei dtv Verlagsgesellschaft
ISBN: 978-3-423-29037-1

»Intensiv und mitreißend.« Mirjam Marits, Die Presse Drei Menschen. Zwei Generationen. Ein Geheimnis. Woher kommt diese tiefe Wut, die Alex in sich trägt? Auf der Suche nach Antworten stößt er auf die ...

„Hier hat es angefangen, und hier gehörte die Zukunft ihnen. Nach diesem Moment haben sie sich immer zurückgesehnt.“

1932: Der junge schwedische Schriftsteller Sven Stolpe und die Übersetzerin Karin Stolpe, seit einem Jahr miteinander verheiratet, lernen den Studenten und angehenden Schriftsteller Olof Lagercrantz kennen.
1988: Der 12-jährige Alexander Schulman verbringt ein Wochenende bei seinen Großeltern mütterlicherseits, Sven und Karin Stolpe. Der Großvater: ein etwas aus der Mode gekommener, aber erfolgreicher Autor, ein polternder, schrulliger Patriarch, dessen Starallüren von niemand in Frage gestellt werden. Die Großmutter: eine unscheinbare, liebevolle, in sich gekehrte Familienmutter und Hausfrau, immer ihrem Mann zu Diensten.
2017: Der Schriftsteller Alex Schulman möchte ergründen, warum in der Familie seiner Mutter die Beziehungen überwiegend von Misstrauen, Feindseligkeit und haltloser Wut bestimmt werden, er identifiziert seinen Großvater Sven Stolpe als Ausgangspunkt und erforscht dessen Memoiren, Briefe und Romane. Ihm wird klar, dass sich 1932 etwas ereignet hat, was sein Großvater als die Katastrophe seines Lebens empfunden hat.
Schulman selbst gebraucht den Ausdruck „Puzzle“. Wie ein Puzzle fügt er die aus den Romanen Stolpes und Gedichten Lagercrantz‘, sowie aus beider Briefen, Tagebüchern und Memoiren gewonnenen Erkenntnisse und seine eigenen Erinnerungen an ein irritierendes Erlebnis mit seinen Großeltern 1988, zusammen zur spannenden, poetischen, traurigen Geschichte einer geheimen Liebe, gleichzeitig zu einer Charakterstudie seiner Großeltern, die in krassem Gegensatz steht zu dem in seiner Familie und der Öffentlichkeit herrschenden Bild. Die Großmutter: eine geistreiche, attraktive Intellektuelle, lebenslustig und kühn. (Leider immer noch nicht lebenslustig und kühn genug…) Der Großvater: ein herrschsüchtiger, kaltherziger, selbstverliebter Psychopath, der Konkurrenz weder als Schriftsteller noch als Mann erträgt, der seine Frau als persönliches Eigentum behandelt, gezielt demütigt und ihr Leben mit systematischer Grausamkeit zerstört. Noch Generationen später ist diese vergiftete familiäre Grundstimmung wirksam.

Eine aufwühlende Liebesgeschichte, gleichzeitig ein Stück schwedischer Literaturgeschichte, kompromisslos, aber einfühlsam und mit Respekt berichtet.

Alex Schulman
Verbrenn all meine Briefe
dtv Verlagsgesellschaft
978-3-423-29037-1
EUR 23,70

 

Das Vorkommnis

Das Vorkommnis

Roman

Das Vorkommnis

Veröffentlicht 2022
von Julia Schoch bei dtv Verlagsgesellschaft
ISBN: 978-3-423-29021-0

Lebenslinien – Liebeslinien – Liebesmuster Eine Frau wird von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Die überraschende Begegnung bleibt flüchtig, löst in ihr aber eine Welle von Emotionen aus. ...

„Familie ist Fiktion“

Die Geschichte beginnt mit einem Knalleffekt: Die unschwer als die Autorin erkennbare Ich-Erzählerin wird nach einer Lesung aus ihrem neuen Roman von einer ihr unbekannten Frau aus dem Publikum angesprochen mit den Worten: „Wir haben übrigens denselben Vater.“
Das macht neugierig. Die Leserin offenbar mehr als die Ich-Erzählerin. Denn was auf den folgenden 190 Seiten erzählt wird, ist ausdrücklich nicht die Geschichte dieser plötzlich aufgetauchten Halbschwester, auch nicht die Geschichte des gemeinsamen Vaters, sondern die Ich-Erzählerin/Autorin macht sich, unter dem Vorzeichen der veränderten Familienkonstellation, ihre eigene Lebensgeschichte neu bewusst. Mit der für autofiktionale Erzähler typischen minutiösen Genauigkeit, ja geradezu Andacht seziert Julia Schoch ihre von dem „Vorkommnis“ ausgelösten Gedanken und Empfindungen, Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in Ostdeutschland, sie streift die Lebensläufe ihrer Mutter und ihrer Schwester und führt detailliert Buch über ihren Alltag in Ohio, wohin sie kurz nach dem „Vorkommnis“ berufsbedingt für einige Monate übersiedelt. Dieser Alltag, in den wir mitgenommen werden, ist genauso banal wie unserer. Dadurch dass die Personen darin namenlos bleiben, wirken sie eher wie Typen als wie Individuen. „Das ältere Kind“, „das jüngere Kind“, „mein Mann“, „meine Schwester“, auch der Name der Erzählerin kommt nie vor. So hält die Erzählerin nicht nur sich selbst, sondern auch den Leser/die Leserin auf angemessene Distanz zu den – rückhaltlos ausgebreiteten –  Details ihres Privatlebens und hebt diese auf eine über den konkreten Einzelfall hinausgehende allgemeine Ebene. Auf dieser Ebene liegen auch die feinsinnigen Beobachtungen, kommentierenden Überlegungen und die klugen, teilweise fast aphoristischen Resümees, die sich daraus ergeben. Besonders erhellend sind die Ausführungen über den Stellenwert der Fiktion in Erzähltem, über ihr Verhältnis zu Wirklichkeit, Erinnerung und Literatur.

In diesem autofiktionalen Roman muss die Erzählerin nach der Entdeckung eines Familiengeheimnisses ihre Sicht auf ihr ganzes Leben neu konstruieren. Eine akribische, konsequente, geistreiche Analyse.

Julia Schoch
Das Vorkommnis
dtv
978-3-423-29021-0
EUR 20,60


 

Jahre mit Martha

Jahre mit Martha

Roman

Jahre mit Martha

Veröffentlicht 2022
von Martin Kordić bei S. FISCHER
ISBN: 978-3-10-397163-7

»… das zarteste Buch, das ich seit einer Ewigkeit gelesen habe …« Monika Helfer Željko, der von allen »Jimmy« genannt wird, ist fünfzehn, als er Martha begegnet. Sie ist Professorin in Heidelberg, er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern zu fünft in einer ...

„Mit jedem Buch, das ich in jener Zeit las, fühlte es sich an, als würde ich mich weiter weglesen von meiner Herkunft, als könnte ich mich zu einem anderen Menschen lesen…“

Der Ich-Erzähler Željko Kovačević, dessen Eltern aus der Herzegowina eingewandert sind und viel arbeiten, aber wenig verdienen, wächst mit seinen Geschwistern in Ludwigshafen auf. Mehr als unter der materiellen Beengtheit leidet Željko unter der geistigen. Er ist ein guter Schüler, sehnt sich nach höherer Bildung, ist ständig auf der Suche nach Lesestoff, muss sich aber mit seinem kroatischen Familiennamen den Zugang zum Gymnasium und zur Universität hart erkämpfen. Als Fünfzenjähriger lernt er die Heidelberger Universitätsprofessorin Martha Gruber kennen, bei der seine Mutter putzt.  Sie ist reich, gebildet, kultiviert, offen und großzügig. Željko ist fasziniert von ihr und verliebt sich in sie. „Ich fand es schön, Frau Gruber beim Denken, beim Schreiben, beim Klugsein zu beobachten. Über den gesamten Garten hinweg bewunderte ich sie für ihre Intelligenz.“ Trotz der großen Unterschiede in Alter, Herkunft, Bildung, sozialem und wirtschaftlichem Hintergrund entsteht zwischen Željko und Martha eine Liebe, die über ein Jahrzehnt lang Željko immer wieder fordert und formt. Es sind Jahre, in denen Željko auf vielen Irrwegen um seine Identität ringt, seinen Platz in der Welt und seine Wurzeln sucht.
Martin Kordić lässt  Željko kritisch (auch selbstkritisch), aber ohne Wehleidigkeit erzählen, differenziert, sensibel und humorvoll. Subtil geschilderte Feinheiten der gegenseitigen Annäherung von Martha und Željko, köstliche Beobachtungen der unterschiedlichen Lebensstile und Wertvorstellungen von Deutschen und eingewanderten Kroaten und der sprachliche Wechsel vom ersten Teil, der aus der Sicht des fast noch kindlichen 15-Jährigen erzählt wird, zum zweiten, ab dem Željko erwachsen ist, erzeugen eine überaus lebendige, anschauliche Atmosphäre.

Unsentimental wird die wechselvolle Geschichte einer außergewöhnlichen Liebesbeziehung erzählt, eingebettet in einen berührenden Bildungsroman um einen intelligenten, ehrgeizigen jungen Deutschen aus Migrantenmilieu.

Martin Kordić
Jahre mit Martha
S. FISCHER
978-3-10-397163-7
EUR 24,70

 

Die Arena

Die Arena

Roman

Die Arena

Veröffentlicht 2022
von Négar Djavadi bei C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-79126-0

EIN GROSSER, RASANTER GESELLSCHAFTSROMAN ÜBER PARIS Benjamin Grossman hat es geschafft, so glaubt er: Einst in einem Pariser Problemviertel aufgewachsen, ist er als Europachef des amerikanischen Streaming-Anbieters ...

„Alles ist ein einziger Krieg.“

Benjamin Grossmann, aus kleinen Verhältnissen in einem Pariser Problembezirk stammend, hat mit eiserner Disziplin Karriere in einem marktbeherrschenden Streamingdienst gemacht. Ein Moment der Undiszipliniertheit, und sein Handy ist weg. Beim Versuch, es wiederzubekommen, verliert er kurz über sich selbst und danach über sein ganzes Leben die Kontrolle.
Der muslimische Jugendliche Issa Zeitouni wird mit schwersten Verletzungen tot auf der Straße gefunden.
Die türkischstämmige Polizistin Asya Baydar hat ihren Berufswunsch gegen den Willen ihrer Eltern  verwirklicht. Als sie, ganz gegen ihre Art, dem am Boden liegenden toten Issa, den sie für bloß betrunken hält, einen Fußtritt versetzt, um von ihren männlichen Kollegen ernstgenommen zu werden, ist ihre berufliche, ihre soziale, vielleicht auch ihre physische Existenz mit einem Schlag vernichtet.
Der Intellektuelle Stéphane Jahanguir Sharif, Sohn eines eingewanderten Pakistani und einer Französin, setzt sich in den Medien für die Rechte der in Frankreich lebenden Muslime ein. Dabei geht es ihm nur scheinbar um Vermittlung, im Hintergrund arbeitet er daran, die Gräben zu vertiefen, die die Voraussetzung für seine Auftritte sind.
Lieber als in die Schule geht Camille Karvel mit ihrem Handy auf Jagd nach plakativen Szenen, die sie heimlich filmt und in den sozialen Medien teilt. Eines dieser tendenziös zusammengeschnittenen Videos geht viral und löst Gewaltexzesse bis hin zu blutigen Straßenkämpfen aus.
… Wie aus einem Wimmelbuch. -
Anhand zahlreicher detailliert ausgearbeiteter und kunstvoll miteinander verflochtener Handlungsstränge aus verschiedensten Gesellschaftsschichten zeigt Négar Djavadi, wie im sozial  zerrütteten Paris kleinste menschliche Fehler, ja Zufälle, wenn sie von den sozialen Medien aufgegriffen und multipliziert werden,  fatale Folgen für die ganze Stadt haben können. So ohnmächtig wie in einer griechischen Tragödie dem Schicksal ist der Einzelne hier Twitter ausgeliefert.

Ein hochdramatisches, komplexes Gesellschaftsbild von Paris als Schauplatz verheerender Kämpfe, die in den sozialen Medien angezettelt und befeuert werden. Atemberaubend!

Négar Djavadi
Die Arena
C.H. Beck
978-3-406-79126-0
EUR 26,80

 

Wo die Wölfe sind

Wo die Wölfe sind

Roman | Ein New York Times Bestseller

Wo die Wölfe sind

Veröffentlicht 2022
von Charlotte McConaghy bei S. FISCHER
ISBN: 978-3-10-397100-2

Der neue New York Times-Bestseller von der Autorin von ›Zugvögel‹ »Ein Buch mit tiefer Liebe zur Natur, sehr spannend und bewegend!« Elke Heidenreich über ...

„Das Kind in uns sehnt sich danach, der Bestie eine Gestalt zu geben, die es begreifen kann. Es will sich vor den Wölfen fürchten, um sich nicht vor seinesgleichen fürchten zu müssen.“

Die Ich-Erzählerin Inti Flynn und ihre Zwillingsschwester Aggie sind in ihrer Kindheit und Jugend in den kanadischen Wäldern zu einem ehrfürchtigen, verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur, zu einem einfachen Leben in der Wildnis erzogen worden, sie haben wichtige Überlebenstechniken wie Fährtenlesen, Reiten und Jagen gelernt. Dabei hat Inti schon früh leidenschaftliches Interesse für Wölfe entwickelt. Nun ist sie Wolfsbiologin und leitet ein Renaturierungs-Projekt, das in den schottischen Highlands Wölfe wieder ansiedeln soll. Dass sie dabei gegen Skepsis und fallweise brutalen Widerstand  der ansässigen Bauern, die um ihre Schafherden fürchten, zu kämpfen hat, macht sie nur noch zielstrebiger und hartnäckiger. Weniger klar ist ihr, wie sie sich dem schwer zu durchschauenden Gemeindepolizisten Duncan MacTavish gegenüber verhalten soll. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen und misstraut ihm doch. Vertrauen zu Männern haben Inti und Aggie in einem traumatischen Erlebnis, das in mehreren Rückblenden erzählt wird, gründlich verlernt. Als eines Nachts ein Bauer für immer im Wald verschwindet, stellt sich für die Polizei, die Bevölkerung und für Inti die Frage, ob er Opfer eines Wolfes oder eines Menschen geworden ist.
Charlotte McConaghy entwirft ein beklemmendes Bild der vielfältigen Gewalt, die Menschen einander und der Natur zufügen. Indem sie ihre Heldin und auch die anderen Figuren aus den sich überstürzenden  Ereignissen nach der Auswilderung der Wölfe Lehren ziehen lässt, eröffnet sie dennoch eine hoffnungsvolle Perspektive. Die Zwillingsschwestern Inti und Aggie wirken mit ihren schier übermenschlichen Kräften und Fähigkeiten, ihrer extremen Naturverbundenheit, der archaischen Wucht ihrer Emotionen fast wie mythologische Gestalten. Das geht stellenweise auf Kosten der Lebensnähe, verleiht dem Anliegen des Romans aber besonderes Gewicht.

Faszinierender Entwicklungsroman, Naturepos, Sachbuch und virtuoser Krimi in einem!

Charlotte McConaghy
Wo die Wölfe sind
S. Fischer
978-3-10-397100-2
EUR 22,70

 

Der Busführer

„Die Kunst ist, zu glauben, das zu wollen, was man muss.“

Der Vorname ist nicht die einzige Last, die der Buslenker Adolf Schweiger von seinem längst verstorbenen Vater aufgebürdet bekommen hat. Da wäre etwa auch die Mutter, eine frustrierte,  gluckenhafte Witwe, bei der Adolf mit Mitte 40 noch immer wohnt, und die ihm Sentenzen wie „Es gibt Menschen, die wollen, und Menschen, die müssen“ auf den Lebensweg mitgibt, wobei klar ist, dass sie sich und Adolf zur zweiten Gruppe zählt. Adolf, übergewichtig, phlegmatisch, anspruchslos, schweigsam und gutmütig, hat sich mit seinem gleichförmigen, fremdbestimmten Leben arrangiert. Immerhin liebt er seinen Beruf.
Auf einer seiner Fahrten durch die (niederösterreichisch anmutende) Kleinstadt Merk und deren Umgebung steigt seine Jugendliebe Hanni bei ihm ein, die er seit 30 Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie ist inzwischen verheiratet, lebt „in einem dieser Architektenhäuser mit viel Lärchenholz und Beton“ und hat „zwei Kinder und einen Rasenroboter.“ Von diesem Augenblick an nimmt der Roman, der zunächst gemächlich dahin geschaukelt ist, Fahrt auf. Rasant geht es auf kurvenreicher Strecke durch eine immer phantastischer werdende Geschichte, in der Personen, die man anfangs für Statisten gehalten hat, zu Hauptakteuren werden, scheinbare Belanglosigkeiten sich zu einer pointierten Nebenhandlung zusammenfügen und die Situation hinter jeder Wegbiegung eine neue ist. Obwohl relativ bald klar ist, wohin die Fahrt geht, kann man sich immer weniger vorstellen, wie das geschehen soll – bei Adolfs Integrität und Passivität.  Aber auch wenn die äußere Handlung nicht in jedem Detail realistisch ist, die genau und humorvoll gezeichneten Charaktere und die köstlichen Dialoge sind es. Wie Adolf Schweiger an der Endstation einerseits doch noch sein Leben in die Hand nimmt, andererseits dabei er selbst bleibt, ist verblüffend, aber psychologisch schlüssig.

Ein ungemein phantasievoller, spannender, witziger Roman, der in gut recherchierten, ironisch nachgezeichneten Milieus einer fiktiven niederösterreichischen Kleinstadt spielt.

Veronika Bauer
Der Busführer
dtv Verlagsgesellschaft
978-3-423-26322-1
EUR 22,70

 

Wilderer

Wilderer

Roman | Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis 2022

Wilderer

Veröffentlicht 2022
von Reinhard Kaiser-Mühlecker bei S. FISCHER
ISBN: 978-3-10-397104-0

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022 und den Österreichischen Buchpreis 2022 »Ich sehe es wirklich als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, darzustellen, also erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« ...

„Man musste etwas tun. Das hatte er gelernt, schon bevor Katja gekommen war. Leben hieß handeln. Leben hieß tun. Und wenn dieses tun sich erschießen war.“

Schon in sehr jungen Jahren führt Jakob den Bauernhof seiner Familie in einem oberösterreichischen Dorf. Das Anwesen liegt unter einer 30 m hohen Autobahnbrücke und ist auch sonst alles andere als idyllisch. Oben rauscht der Transitverkehr über ihn hinweg, unten müht sich Jakob ohne Aussicht auf Erfolg, resigniert ums Überleben der von seinem Vater zugrunde gerichteten Landwirtschaft. Schonungslos scharf, aber keineswegs zum lächerlichen Klischee vereinfacht, zeichnet der Autor das Bild einer bäuerlichen Welt, die ökonomisch, sozial und kulturell in den letzten Zügen liegt. In dieser Welt wird kaum das Notwendigste gesprochen, werden Gefühle unter Verschluss gehalten oder unheilvoll umgeleitet, verrichtet Jakob seine tägliche Arbeit nur, weil er keine Alternative hat. Aus der Sicht dieses desillusionierten, misstrauischen, auch verrohten Menschen, dementsprechend lapidar und trocken wird die Geschichte erzählt.

Als die Salzburger Malerin Katja im Dorf auftaucht, sich in Jakob verliebt und zielstrebig Zutritt zu seinem Leben verschafft, wendet sich alles zum Guten. Wie die beiden eine biologische Hühner- und Schweinezucht aufbauen, den maroden Bauernhof zum Vorzeigebetrieb umkrempeln, heiraten, ein Kind bekommen und sich die Hochachtung des ganzen Dorfes erwerben, dass Katja einerseits weiterhin erfolgreich malt und andererseits sich im Handumdrehen in die Viehzucht eingearbeitet hat, passenderweise auch Buchhaltung beherrscht und mit Jakobs einsilbiger, gefühlsarmer Familie gut auskommt – es ist zu märchenhaft um wahr zu sein. Prompt bahnt sich, dramaturgisch elegant, gerade am Höhepunkt von Jakobs wirtschaftlichem Erfolg die Katastrophe an, die so manches in ganz anderem Licht erscheinen lässt.

Kaiser-Mühlecker erzählt kurz angebunden, fast teilnahmslos, aber mit eindrucksvoller Wucht die Geschichte eines wortkargen, bis zur Brutalität verschlossenen jungen Bauern, der einen – vor allem gegen sich selbst –  aussichtslosen Kampf um Lebenssinn führt.


Reinhard Kaiser-Mühlecker
Wilderer
S. Fischer
978-3-10-397104-0
EUR 24,70

 

Rombo

Rombo

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022

Rombo

Veröffentlicht 2022
von Esther Kinsky bei Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-43057-6

Im Mai und im September 1976 erschüttern zwei schwere Erdbeben eine Landschaft und ihre Bevölkerung im nordöstlichen Italien. An die tausend Menschen sterben unter den Trümmern, Zehntausende sind ohne Obdach, viele werden ihre Heimat, das Friaul, für immer verlassen. Die ...

„Der Boden des täglichen Lebens wird zum gestörten Gelände, auf dem ein jeder nach Verlorenem sucht, tastend, schauend, horchend.“

Im Friaul, das von jeher immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird, ereignete sich 1976 ein besonders gewaltiges und folgenschweres Erdbeben. Wie geht ein solches Ereignis ins Gedächtnis ein, ins individuelle sowohl als auch ins kollektive? Woran erinnern sich die, die es miterlebt haben, in welcher Weise beeinflusst die jeweils subjektive Perspektive die Erinnerung, wie hat das Ereignis das Leben der Betroffenen dauerhaft verändert? Diesen Fragen geht Esther Kinsky in ihrem Roman „Rombo“ nach.

4 Zeitzeuginnen und 3 Zeitzeugen, Bewohnerinnen und Bewohner eines Dorfes unterhalb des Monte Canin, tragen abwechselnd in kurzen Abschnitten ihre Erinnerungen vor, nicht nur an das Erdbeben selbst, sondern teilweise auch an lange davor liegende Erlebnisse, die dem jeweiligen Erzähler in Verbindung mit dem Erdbeben einfallen. Wir bekommen so einen Eindruck von den immer schon extrem schwierigen, absolut nicht idyllischen Lebensbedingungen in den abgelegenen Gebirgsdörfern des Friaul. Die Sprache dieser Zeitzeugen ist nüchtern und einfach, die ihnen hin und wieder in den Mund gelegten Betrachtungen darüber, wie Erinnern und Erzählen einander wechselseitig beeinflussen, wirken trotzdem authentisch und machen klar, dass es nicht von der Schulbildung abhängt, ob jemand sein Leben nur lebt oder auch reflektiert.
Zwischen die Berichte der Zeitzeugen setzt die Autorin kurze, aber detailliert recherchierte Informationen über Pflanzen, Tiere, Geologie, Brauchtum, Sagen des vom Erdbeben betroffenen Gebietes. Die Landschaft selbst bekommt so eine Stimme, mit der auch sie Stück für Stück ihre Erinnerungen preisgibt. (Das Titelwort „rombo“ bezeichnet ja das grollende, donnernde Raunen im Erdinneren, das einem Erdbeben unmittelbar vorausgeht.) Kinskys Naturbeschreibungen sind unsentimental, sachlich und gerade dadurch überzeugend poetisch.

Ein so subtiler wie – qualitativ, nicht quantitativ – monumentaler Roman über das Sich-Erinnern, „vom Erinnern als Aufgabe.“


Esther Kinsky
Rombo
Suhrkamp
978-3-518-43057-6
EUR 24,70

 

Der große Fehler

Der große Fehler Der große Fehler

Veröffentlicht 2022
von Jonathan Lee bei Diogenes
ISBN: 978-3-257-07191-7

Die Welt besteht aus Fehlern und Flickversuchen. Und manchmal aus seltsamen Missverständnissen. Andrew Green ist tot. Erschossen am helllichten Tag, an einem Freitag, den 13. Spekulationen schießen ins Kraut. Verdankt New York dem einstigen Außenseiter doch unter anderem den Central Park und die ...

„Er liebte diese Stadt. Er hasste sie…Vielleicht behielt sie ihn im Gedächtnis, vielleicht vergaß sie ihn.“

In „Der große Fehler“ erzählt Jonathan Lee die Lebensgeschichte Andrew Haswell Greens, der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in New York bedeutende Einrichtungen wie den Central Park, die Public Library oder das Metropolitan Museum of Arts geschaffen hat und trotzdem weitestgehend in Vergessenheit geraten ist.
Der Roman beginnt mit Greens spektakulärem Ende – er wurde in hohem Alter auf offener Straße erschossen – und stellt dann jedem Kapitel der Aufklärung dieses Mordfalles ein Kapitel aus Greens Kindheit, Jugend und Erwachsenenjahren gegenüber, bis schließlich ein stimmiges Lebens- und Charakterbild des großen  Stadtplaners vorliegt. Dabei hat der Autor das eher dürftige biographische Material, das ihm zur Verfügung stand, effizient ausgewertet, behutsam ergänzt und auch Nebenpersonen ein originelles Profil gegeben. Die Hauptperson rekonstruiert er als einen scheuen, nachdenklichen, bildungshungrigen Außenseiter, der von klein auf gezwungen war, seine Gefühle zu verbergen und sich den Weg zum Anwaltsberuf und zum anerkannten Stadtplaner aus kleinsten Verhältnissen hart erarbeitet hat. Während wir ihn auf diesem Weg begleiten, lernen wir das New York des 19. Jahrhunderts kennen, ein nicht nur beeindruckendes, sondern auch rassistisches, asoziales, verwahrlostes, korruptes New York, das Andrew Green mit seinen Schöpfungen ein bisschen schöner, lebenswerter und gerechter machen wollte. Dass er dieses Ziel erreicht hat, daran lässt der Roman keinen Zweifel. Andrew Greens lebenslange Suche nach Liebe und Freundschaft verlief weniger glücklich. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs sinniert er, „…dass all seine öffentliche Arbeit nicht so viel bedeutete, wie einen Freund zu haben, der seine Hand hielt, wenn er starb.“ Der Leser weiß da längst, dass Andrew Green anders sterben musste.

Ein historischer Roman über New York im 19. Jahrhundert, einfühlsam, aber nie sentimental, sachkundig, aber nicht trocken und mit Sinn für skurrile Situationen geschrieben.


Jonathan Lee
Der große Fehler
Diogenes
978-3-257-07191-7
EUR 25,70

 

Der letzte Sommer in der Stadt

Der letzte Sommer in der Stadt

Roman

Der letzte Sommer in der Stadt

Veröffentlicht 2022
von Gianfranco Calligarich bei Zsolnay, Paul
ISBN: 978-3-552-07275-6

Die Wiederentdeckung aus Italien: eine melancholische Liebesgeschichte im Rom der siebziger Jahre im Stil von Fellinis „La Dolce Vita“ Rom, Anfang der siebziger Jahre: Der junge Leo Gazzarra kommt aus Mailand in die Ewige Stadt, die ihm alles zu bieten scheint. Ein befreundetes Paar ...

Gianfranco Calligarichs Roman „L‘ ultima estate in cittá“ gibt es fast 50 Jahre nach seinem Erscheinen erstmals auf Deutsch: „Der letzte Sommer in der Stadt“.

Der Ich-Erzähler Leo Garazza, ein junger Mailänder in den frühen 1970er Jahren, liebt: Rom, Bücher, Alkohol und Frauen. Was er nicht liebt, sind fixe Arbeitsverhältnisse, ein geregelter Tagesablauf, feste Beziehungen. Am festesten ist noch seine Beziehung zu Rom. Hier ist er hergezogen aus Begeisterung für die Atmosphäre dieser Stadt. Hier lernt er auch Arianna kennen, eine junge Architekturstudentin, die psychisch labil, exzentrisch und noch unsteter als er ist. Obwohl die beiden einander lieben, scheitern ihre Bemühungen, einander zu finden und zu halten, an ihrer Scheu, Gefühle zu zeigen, an Trotz und Missverständnissen, auch an der Einsamkeit, in der beide leben, inmitten ihrer großen Freundeskreise und inmitten der so vieles bietenden Ewigen Stadt.

Leo, der zwar ein Freund der großen Literatur, aber im persönlichen Leben kein Freund der großen Worte ist, erzählt seine letztlich triste Geschichte lapidar und minimalistisch. Dieser Roman malt keine opulenten Gemälde, sondern zeichnet knappe Skizzen. Auf den etwa 200 Seiten fällt kein Wort zu viel. Und doch entstehen nuancierte, zauberhafte Stadt- und Landschaftsbilder, anschauliche Szenen, von beklemmend bis witzig, Menschen, so lebendig, dass wir glauben, genau ihnen schon oft begegnet zu sein. Die Dialoge sind meisterhaft: treffsicher und mit trockenem Humor werden die Sprechenden in ihnen charakterisiert, sowohl durch das, was sie sagen als auch durch das, was sie nicht sagen. Wie überhaupt das Unausgesprochen Lassen zur verknappten Erzählweise dieses Romans gehört.

Leo und Arianna, die zwei gebildeten, belesenen, schlagfertigen Stadtmenschen, die nie Tritt fassen in ihrem Leben und es nicht schaffen, ihre Sehnsucht nach einer tragfähigen Liebesbeziehung zu verwirklichen, Leo und Arianna sind zeitlose Gestalten der Literatur, heute genauso wert, dass man sie kennen lernt wie vor 50 Jahren.

Gianfranco Calligarich
Der letzte Sommer in der Stadt
Zsolnay
978-3-552-07275-6
EUR 22,70

 

Tell

Tell Tell

Veröffentlicht 2022
von Joachim B. Schmidt bei Diogenes
ISBN: 978-3-257-07200-6

Joachim B. Schmidt schreibt Geschichte neu. Seine ›Tell‹-Saga ist ein Pageturner, ein Thriller, ein Ereignis: Beinahe 100 schnelle Sequenzen und 20 verschiedene Protagonisten jagen wie auf einer Lunte dem explosiven Showdown entgegen. Schmidt bringt uns die Figuren des Mythos nahe und erzählt ...

„Sie alle sind Tell.“

Die Sagen rund um die Schweizer Habsburgerkriege überliefern den Namen eines berühmten Helden: Wilhelm Tell.  Mehrfach hat er in die Literatur Eingang gefunden, zuletzt in Joachim B. Schmidts Roman „Tell“.

Die teils historischen, teils sagenhaften, teils erfundenen Ereignisse in der Zentralschweiz um 1300 werden als eine Folge kurzer Innerer Monologe, die Personen aus Tells Umkreis in den Mund gelegt sind, vor uns aufgerollt. Mit den Augen seiner Frau, seines Sohnes, seiner Mutter, des Dorfpfarrers, einiger habsburgischer Söldner, die plündernd, mordend und vergewaltigend in der Umgebung ihr Unwesen treiben, des Landvogtes Gessler und vieler anderer sehen wir einen zunächst wenig einnehmenden, eigenbrötlerischen, aufbrausenden Bergbauern, außergewöhnlich kräftig, abgehärtet und auf nichts anderes bedacht als seiner Familie mit Viehzucht und Jagd ein karges Überleben zu sichern. Im letzten Teil des Romans sind wir durch diese vielfältigen Beobachtungen Tell so nahe gekommen, dass wir stellenweise ihn selber mit eigener Stimme erzählen hören.

Zum Helden wird Tell nicht durch den berühmten Tyrannenmord, sondern erst danach, als er sich – endlich – seinen lange verdrängten Schuldgefühlen, in der Kindheit erlittenen Verletzungen und Demütigungen stellt, mit sich ins Reine kommt und sich so die angedeutete Apotheose verdient, die der Autor ihm auf originelle Weise bereitet.

Auch die anderen Figuren sind nicht schwarz-weiß, sondern sehr differenziert gezeichnet. Gessler etwa ist kein klassischer Bösewicht, sondern ein unentschlossener Schwächling mit einigen durchaus liebenswerten Eigenschaften. Sogar die brutalen, zynischen, immer betrunkenen Söldner haben auch menschliche Züge. Und dann begegnen uns viele einfache Männer und besonders Frauen, die, jede/r auf seine / ihre Weise, Tell unterstützen und so wesentlichen Anteil haben an dem legendären Tyrannenmord. „Sie alle sind Tell“ erkennt der sterbende Gessler.

Eine originelle, phantasievolle, mitreißende Neudeutung des Schweizer Nationalmythos, in der der mittelalterliche Held seinen Ruhm mit vielen anderen, sehr modernen Helden und vor allem Heldinnen teilen darf.

Joachim B. Schmidt
Tell
Diogenes
978-3-257-07200-6
EUR 23,70